Inès Bayard: "Scham"
Von Kontrollverlust,
Missbrauch und Gewalt gegen Frauen
Marie steht mit beiden Beinen fest im Leben. Sie ist glücklich
verheiratet, liebt ihren Beruf und plant mit ihrem Mann eine Zukunft mit
Kindern. Doch Maries Leben gerät aus den Fugen. Sie wird vergewaltigt.
Die Scham und die Demütigung sind für Marie so überwältigend, dass sie
sich dazu entschließt, über die Vergewaltigung zu schweigen. Marie
isoliert sich immer mehr von ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt. Sie ist
gefangen in einer Spirale aus Wut, Trauer, Unverständnis, Verzweiflung
und Scham. Doch Marie geht bis zum Äußersten für ihre Erlösung.
Mit dem Roman "Scham" ist Inès Bayard eine Gratwanderung zwischen
Verstand und Wahnsinn gelungen. Sie zerlegt die Vergewaltigung und
schildert nüchtern und sachlich Maries Erlebnisse und Gedanken. Bayard
bezeichnet ihre Schreibweise in einem Interview zu recht als physisch
und brutal. Der Stil scheint nicht nur die physische Pein
widerzuspiegeln, die Marie seit dem Abend ihrer Vergewaltigung
begleitet, sondern auch "die Qualen des weiblichen Körpers",
so Bayard im Interview mit dem Verlag. Wie der Titel des Buches vermuten
lässt, sind diese Qualen mit Scham verbunden:
"Die Scham, die jede Frau von Anfang bis Ende ihres Lebens nicht
loslässt. Immer ist es dieselbe. Die Scham vor dem Körper, der nicht
perfekt, nicht rein ist, der von der allgemeinen Moral missbilligt
wird. Der Körper, der leidet, stöhnt, sich krümmt, blutet, sich
verändert, heranreift, zunimmt und abnimmt, das ganze Leben lang
penetriert, geschwängert, geöffnet, ausgenommen, wieder geschlossen
wird, je nach Prüfung anschwillt oder abschwillt, und um ihn
ruhigzustellen, mit Paracetamol und Ibuprofen vollgestopft wird."
(S. 77)
Die Penetration und Zurschaustellung des weiblichen Körpers zieht sich
wie ein roter Faden durch den Roman. Marie ist unfähig, sich angesichts
der drohenden gesellschaftlichen Stigmatisierung zu behaupten und ihre
Vergewaltigung anzuzeigen oder zumindest jemandem davon zu erzählen. Die
Gesellschaft würde Marie mit anderen Augen betrachten, sie in die
Opferrolle zwängen oder ihr Geständnis vielleicht sogar anzweifeln, sie
zur Verführerin abstempeln. Die Lüge erlaubt Marie ein letztes bisschen
Kontrolle über ihr Leben, nachdem man ihr die Kontrolle
über ihren Körper verwehrt hat. Sie muss also nun alles daran
setzen, die Lüge aufrecht zu erhalten. Als die Fassade zu bröckeln
beginnt, fällt sie den entscheidenden Entschluss für sich und ihre Familie.
Bayards Roman ist in den Augen der Rezensentin ein feministisches
Bekenntnis. Manchen mag die Geschichte Maries übertrieben erscheinen,
aber die Realität von sexuellen Übergriffen gegen Frauen und die damit
verbundene Angst vor der Stigmatisierung in der westlichen Welt ist seit
der "Me Too"-Bewegung nicht mehr zu leugnen. In Ländern, in
denen Frauenrechte nicht denselben Stellenwert haben wie etwa in
Frankreich, in denen Vergewaltigung nicht verfolgt wird oder
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung illegal ist, sehen sich Frauen
immer wieder in Spiralen aus Scham, Angst, Wut und Machtlosigkeit
gefangen. Es gilt, die Kontrolle wiederzuerlangen und die Erinnerung an
den Missbrauch auszumerzen.
Der Roman "Scham" erzählt nicht nur brutal und physisch die Geschichte
einer Vergewaltigung. Er macht aufmerksam, kritisiert, prangert an,
weshalb er verdienterweise auf der Kandidatenliste für den "Prix
Goncourt" 2018, den wichtigsten französischen Literaturpreis, stand.
(Sabrina Brugner; 03/2020)
Inès Bayard: "Scham"
(Originaltitel "Le malheur du bas")
Übersetzt von Theresa Benkert.
Zsolnay, 2020. 224 Seiten.
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Inès Bayard, geboren 1992 in Toulouse, lebt derzeit in Berlin.