James Baldwin: "Von dieser Welt"


"Von dieser Welt" stellt seinen Lesern die afroamerikanische Kultur der 1930er-Jahre vor und begleitet den vierzehnjährigen John Grimes und seine Familie einen Tag lang bis zum Ende eines Gottesdienstes, der die Geheimnisse der Familie ans Tageslicht bringt.

Der Sonntag beginnt für die Familie Grimes wie jeder andere Sonntag mit einem Gottesdienst, aber dieser Gottesdienst wird zur Offenbarung und Läuterung für John und seine Familie. Der Leser folgt dem Jungen zu Beginn des Romans durch die Straßen Harlems. John wirkt wie gelähmt von der Angst vor seinem Vater und dem Wissen, dass er in dessen Fußstapfen treten soll. Elisha, ein junger Prediger und Freund, ist mit seiner Stimme, die tief in Johns Ohr dringt, fast wie ein Lichtblick in der Finsternis. Für Gabriel Grimes ist John die Sünde selbst, eine Möglichkeit für den Vater Buße zu tun für die eigenen, tief begrabenen Sünden, von denen nur die Schwester weiß. Es sind die Geheimnisse, welche die Charaktere mit sich tragen, die an diesem Tag ihren Weg an die Oberfläche finden. Für John ist nach dem Gottesdienst nichts mehr, wie es vorher war.

Die Kirchenlieder der Gemeinde werden in Baldwins Roman zum Leitmotiv. Sie kündigen Veränderungen auf der Handlungsebene und Perspektivenwechsel auf der Erzählebene an. Tief verwurzelt im Text ist auch der Jazz. Verena Lueken beschreibt in ihrem Vorwort, wie James Baldwin sich in die Schweiz zurückzog und seinen Roman zu Ende schrieb, während er den Stücken von Bessie Smith lauschte und seinen eigenen Beat auf den Tasten der Schreibmaschine fand. An manchen Stellen quillt der Text über vor Emotionen und hinterlässt präzise Eindrücke vom afroamerikanischen Leben der 1930er-Jahre. An anderen Stellen wiederum beschreibt Baldwin das Leben des vierzehnjährigen John Grimes mit unvergleichlichem Feingefühl und kreiert so ein eindrucksvolles Porträt eines Heranwachsenden. Der Leser spürt auch dieselbe Beklemmnis, die John begleitet, und den quälenden Drang, auszubrechen aus dieser Beklemmnis, dieser Finsternis, aus der Sünde, deren Einfluss für alle Charaktere allgegenwärtig zu sein scheint.

Markant sind die autobiografischen Züge des Romans. Von den Eltern über die Geschwister und die Tante bis hin zu dem geliebten älteren Freund, "dem Bruder im Herrn" finden sich wichtige Menschen aus Baldwins Leben in dem Roman wieder. Wie James selbst ist John auf der Suche nach einer Stimme, die frei von Angst und Scham sprechen und schreiben kann. Er sucht dem Bild zu entkommen, das die weiße vorherrschende Gesellschaft dem schwarzen Mann auferlegt hat. Baldwin scheint wie kein Anderer die Auswirkungen der Sklaverei und Rassentrennung in den USA zu verstehen. Die Feinfühligkeit, mit der er das Leben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt, ohne aus diesem Roman Protestliteratur zu machen, ist bemerkenswert. Das Verständnis, das Baldwin für die us-amerikanische Gesellschaft beweist, macht seine Werke zu außergewöhnlichen Leseerfahrungen.

(Sabrina Brugner; 02/2020)


James Baldwin: "Von dieser Welt"
(Originaltitel "Go Tell It On The Mountain")
Übersetzt von Miriam Mandelkow.
dtv, 2019. 320 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Taschenbuch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen