Paul Auster: "Mit Fremden sprechen"
Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren
Paul Austers Werk ist
vielfältig. Und damit ist nicht die Quantität oder die Anwendung
verschiedener Genres gemeint. Paul Auster schreibt wie alle
Schriftsteller an einem Buch, und in seinem Fall ist es ein
Buch mit vielen Seiten. Es gibt die Darstellung von New York in allen
Facetten, es gibt biografische Annäherungen an seinen Vater und
autobiografische Aspekte, es gibt die Leidenschaft für Baseball, den
"Zufall" der Geburt und des Todes und überhaupt des Lebens an sich und
den innewohnenden Ereignissen und Erfahrungen, es gibt philosophische
Einsprengsel und politische Anwandlungen, vielfältige Vorstellungen von
Lebensentwürfen und kuriose Dialoge einander völlig fremder Menschen.
Und so könnte noch lange fortgesetzt werden, ohne an ein Ende zu kommen.
In Paul Austers Werken sind so viele verschiedene Ingredienzien
verpackt, dass es unmöglich ist, zu einer Gesamtperspektive zu kommen.
Irgendwann wird es sicher auch Biografien über ihn geben, und dass dann
Klarheit über diesen erstaunlichen Schriftsteller, Regisseur und
Drehbuchautor, Ehemann, Vater, US-Amerikaner, New Yorker, und ... ja,
auch Essayisten herrscht, ist nicht anzunehmen.
Und damit wären wir also schon beim Thema: Paul Austers Essays. Nun
liegt ein Sammelband vor. Im Lauf von fünf Jahrzehnten sind allerlei
Essays entstanden. Ein Essay ist dem Wortsinn nach ein "Versuch". Ein
Versuch, über ein Thema zu schreiben. Ein Essay stellt nicht den
Anspruch, irgendeine Wahrheit abzubilden. Ein Essay kann sich im besten
Fall der Wahrheit annähern. Wenn dieser Sammelband in Augenschein
genommen und besprochen werden soll, stellt sich zuallererst die Frage,
ob er etwas Neues zeigt. Also ob dem Leser, der mit Austers
literarischen Werken vertraut ist, das Eine oder Andere offenbart wird,
an dem er seine Freude haben mag, weil es darüber hinausgeht, was
bereits bekannt ist. Und diese Frage kann bejaht werden. Der Rezensent
hat sämtliche Werke Paul Austers gelesen (viele davon auch im Original),
und nunmehr kennt er einige Aspekte, die er als Erweiterung seiner
Kenntnisse des Paul Auster-Universums einstuft.
Dabei kannte der Rezensent nicht wenige Essays bereits. Insbesondere
sind Essays aus den Büchern "Die Kunst des Hungerns" und "Die
Geschichte meiner Schreibmaschine" vertreten und machen einen
beträchtlichen Teil des Buches aus. Einige hat der Rezensent wieder
gelesen, einige nicht. Bei einem Sammelband kann ja so und so wild
durcheinander gelesen werden. Alle Essays bis auf einen waren bereits
auf Englisch bzw. US-Amerikanisch erschienen. Im Grund sind es die
deutschsprachigen Erstveröffentlichungen, durch die dieser Sammelband
seine Bedeutung erhält. Es handelt sich um Vorträge, Auszüge aus Reden
und einiges Andere, das zuvor in Zeitungen abgedruckt worden war.
Als großer Paul Auster-Anhänger berichtet der Rezensent überraschend
sachlich. Das liegt aber wohl am Buch selbst. Denn die Essays haben
jenen literarischen Charakter nicht, der Paul Austers Werk auszeichnet.
Man nähert sich Paul Auster als Zeitgenossen an, der Meinungen vertritt,
der spekuliert, der seinen Senf zu diesem und jenem abgibt. Jetzt sollen
Eindrücke wiedergegeben werden, und so manch Überraschendes in diese
Besprechung einfließen:
Paul Auster hat für
Salman
Rushdie gebetet. Und in seinem Appell an den Gouverneur von
Pennsylvania schreibt er:
"Und solange Zweifel bestehen, solange plausibel dargelegt werden
kann, dass Mumia Abu-Jamal nicht getan hat, wessen man ihn für
schuldig befunden hat, finde ich es ungeheuerlich, dass ihm das Leben
genommen werden kann - ungeheuerlich und beschämend, eine Sünde gegen
die Gesetze des Menschen und die Gesetze Gottes."
Für die Aufhebung des
Todesurteils
gegen Mumia Abu-Jamal sind viele Künstler eingetreten. 2011 ist dies
tatsächlich geschehen. Allerdings hat Mumia Abu-Jamal keine Chance, je
wieder in Freiheit zu sein. Er hat im Gefängnis geschrieben, und seine
Bücher haben eine besondere Qualität. Es lohnt sich, sich mit seinem
Leben und seiner ungebrochenen Kraft, als Freigeist zu wirken, zu
beschäftigen. Erstaunlich ist im Zusammenhang mit Paul Auster, dass er
betet und von den Gesetzen Gottes spricht. Paul Auster ist Jude und
sieht sich auch angesichts der Grausamkeiten, die den Juden angetan
wurden und werden, dem Volk der Juden zugehörig. Allerdings ist er kein
religiös praktizierender Jude. Nun ist nachzulesen, dass er
möglicherweise doch einen religiösen Kern hat. Er ist vielleicht
Agnostiker, vielleicht sogar ein Mensch, der die Transzendenz in sein
Leben integriert hat. Das Sprechen mit Gott (das ist Gebet!), und das
Eintreten für das Leben eines Menschen durch den Hinweis auf die Gesetze
Gottes legt nahe, dass Paul Auster jedenfalls einen Bezug zu Gott hat,
auch wenn er diesen nicht konkretisiert.
Es gibt einen ungemein interessanten Zusammenhang zweier Essays, der für
den Rezensenten hervorsticht. Die Essays über die Lyrikerin Laura Riding
und den enorm vielseitigen Künstler Joe Brainard verdeutlichen, dass
sich Künstler plötzlich ins Schweigen begeben. Im Fall von Laura Riding
war es so, dass sie sehr viele Gedichte schrieb und dann damit aufhörte.
29 Jahre später schrieb sie darüber, warum sie einst aufgehört hatte.
Bei Joe Brainard war es wiederum so, dass er exzessiv Kunst betrieb,
plötzlich damit aufhörte und in den letzten 15 Jahren seines Lebens
überhaupt nicht mehr als Künstler in Erscheinung trat. Laura Riding
wurde 90, Joe Brainard 53 Jahre alt. Wieso dieses Abbrechen
künstlerischen Schaffens? Was führt dazu, sein Leben nicht mehr der
Kunst zu widmen, sondern sich ganz "ins Private" zurückzuziehen? Laura
Riding meinte, sie habe die Grenzen ihrer Möglichkeiten als Lyrikerin
überschritten. Wie es bei Joe Brainard war, ist nicht bekannt. Dieses
Thema ins Gespräch zu bringen, ist jedenfalls eine Besonderheit, der
sich Paul Auster ausführlich gewidmet hat. Ob er selbst mit "4 3 2 1"
aus seiner Sicht sein opus magnum geschrieben hat und nichts Neues
hinzufügen will, (seine Essays stammen aus den Jahren 1967 bis 2017),
ist die große Frage. Da kann die Literaturwelt nur abwarten.
Kunst ist es freilich, über die Paul Auster die meisten Essays
geschrieben hat. "Mit Fremden sprechen" ist ein Essay, der für das Buch
titelgebend ist und dessen Hintergrund gegen Ende des Sammelbands
deutlich wird.
Paul Auster schreibt aber auch über Fußball und Krieg und darüber, wie
er den 11. September 2001 erlebt hat. Es wird also ein weiter Bogen
gespannt. Nachdem es unsinnig wäre, sich an dieser Stelle in Details der
Essays zu verheddern, soll am Schluss dieser Besprechung der junge Paul
Auster zu Wort kommen. Es handelt sich um einen winzigen Auszug aus dem
einzigen Text, den auch eingefleischte Auster-Anhänger, die alles im
Original gelesen haben, noch nicht gekannt haben können. Freilich kann
der Rezensent, da es sich um ein deutschsprachiges Werk handelt, nur aus
der deutschsprachigen Übersetzung zitieren. Paul Auster hat "Notizen aus
einer Kladde" im Jahr 1967, also im Alter von 20 Jahren, geschrieben:
"Das Auge
sieht die Welt im Fluss. Das Wort ist ein Versuch, den Fluss
anzuhalten, ihn zu stabilisieren. Und doch mühen wir uns beharrlich,
Erfahrung in Sprache zu übersetzen. Daher Dichtung, daher die
Äußerungen im Alltag. Dieser
Glaube
verhütet allgemeine Verzweiflung - und ist auch deren Ursache."
(Jürgen Heimlich; 11/2020)
Paul Auster: "Mit Fremden sprechen.
Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren"
(Originaltitel "Talking to Strangers")
Übersetzt von Werner Schmitz, Nikolaus Stingl, Dirk van Gunsteren,
Marion Sattler Charnitzky,
Alexander Pechmann, Andrea Paluch, Robert Habeck.
Rowohlt, 2020. 416 Seiten.
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