Aravind Adiga: "Amnestie"
Ein spannender, brillant
erzählter Tag im Leben eines illegalen Migranten in Australien
Der Roman "Amnestie" von Aravind Adiga, 1974 im indischen Chennai
geboren, ist einer dieser Romane, die einen erfolgreichen Spagat
zwischen Belletristik und Kriminalliteratur wagen.
Adigas aus Sri Lanka stammender Protagonist heißt Dhananjaya Rajaratnam,
oder kurz auch Danny. Als Student nach Sydney gekommen, hat er den
Flüchtlingsstatus beantragt und lebt, weil dieser Antrag abgelehnt
wurde, als illegaler Migrant in der Stadt. Statt einer Wohnung mietet er
den Lagerraum eines Supermarkts, der von einem griechischen Einwanderer
geführt wird. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Putzkraft.
Die Handlung dieses spannenden Romans erstreckt sich über einen einzigen
Tag, der für ihn, der bis dahin in einer Art ruhigen Vakuums gelebt hat,
alles verändert. Kurz vor neun Uhr früh beginnt Danny seine erste
Reinigungsarbeit, als er zufällig erfährt, dass eine seiner ehemaligen
Kundinnen ermordet wurde. Da er damals mit ihr und ihrem Liebhaber,
einem etwas dubiosen Mann namens Prakash, viel Zeit verbracht hat, unter
Anderem mit Ausflügen und daher viel von den Verhaltensweisen des Paares
weiß, vermutet er rasch, dass der Täter nur Prakash sein kann.
Schockiert über sein Wissen und die Vermutung, dass ein Anruf bei der
Polizei dazu führen wird, dass er des Landes verwiesen wird, ruft er
beim Mörder an, der natürlich weiß, dass sich der ehemalige Putzmann der
Geliebten illegal im Land befindet ...
Es ist immens spannend, wie Adiga das stundenlange Abtasten der beiden
Männer, die einander mittels Bluffs und Drohungen per SMS und
Telefonaten immer wieder vermeintlich neue Perspektiven schaffen,
darstellt. Im Hintergrund lauert die Frage, wer hier wen in der Hand
hat. Wenn Danny Prakash verrät und an die Behörden meldet, wird dieser
im Gegenzug Danny ausliefern. Für den Einen wäre es die
Untersuchungshaft, für den Anderen die Abschiebehaft. Eine zutiefst
beunruhigende Pattsituation, vor allem, da Danny sehr schnell versteht,
dass Prakash nicht davor zurückschrecken wird, notfalls auch ihn mit
Gewalt zum Schweigen zu bringen. Einen Wissenden, der etwas gegen ihn in
der Hand hat, braucht Prakash definitiv nicht.
Danny, der für den Rechtsstaat ein Illegaler ist, hat zwar recht, aber
er hat kein Recht, zu agieren, ohne sich dabei selbst zu schaden.
Für seine Freundin, die nichts von seinem illegalen Status weiß, trägt
er fast den ganzen Tag als Geschenk einen Kaktus mit sich, den er ihr am
Abend geben will. Bei einer Begegnung mit Prakash setzt er das Gewächs
unüberlegt als Waffe ein.
Ein wichtiger weiterer Aspekt ist der, dass Adiga kluge Beobachtungen zu
sozialen Machtstrukturen unter Immigranten
in seinen Roman einfließen lässt. Es gibt nicht nur den Kampf "Wir gegen
Euch", sondern auch "Ihr gegen Euch". Generell beschäftigt er sich auch
mit Gedanken zu den weltweiten Fluchtbewegungen, die aktuelle Brandherde
in Erinnerung rufen.
Immer wieder schweifen Dannys Gedanken zum Bürgerkrieg in Sri Lanka ab,
zu den ersten vier Jahren in Sydney, die er zunächst als legaler Student
verbracht hat, bevor er sich nach einem negativen Bescheid dennoch für
den Verbleib in
Australien entschieden hat. Abgeschoben konnte er immer noch
werden, dazu musste er nicht kooperativ sein. Er hört nicht nur von
tragischen Schicksalen anderer Illegaler.
Doch der indische Autor schafft es, in diesem blendend übersetzten Roman
emotionale Betroffenheitsprosa zu vermeiden. Danny ist ein Gejagter auf
der Flucht, ohne der Mörder der Frau zu sein. Das gibt ihm genug Bühne,
um den Leser zu fesseln. Adiga baut immense Spannung auf, die sich in
einer Art Antiklimax auf beeindruckende Weise vom spannungsgeladenen
Kriminalroman immer mehr in Richtung Innenleben seiner Protagonisten
konzentriert.
(Roland Freisitzer; 01/2021)
Aravind
Adiga: "Amnestie"
(Originaltitel "Amnesty")
Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
C.H. Beck, 2020. 286 Seiten.
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