Norbert Zähringer: "Wo wir waren"


Wenn nicht die Mondlandung gewesen wäre ...

Norbert Zähringer ist einer der interessantesten jüngeren deutschsprachigen Autoren. Schon sein Debütroman "So" ist nicht weniger als ein großer Wurf, ein herrlich absurder postmoderner Berlin-Roman, der Seinesgleichen sucht. Auch die Nachfolgewerke haben es in sich. "Als ich schlief", "Einer von vielen" und "Bis zum Ende der Welt" bewiesen, dass Norbert Zähringer ein Autor ist, der anscheinend keine Grenzen kennt. Egal, welche Themen er angreift oder welcher stilistischer Mittel er sich bedient, einerlei, wieviele Handlungsstränge er zwischen den Buchdeckeln unterbringen will, sein Sinn für Ablauf und Konstruktion stellt sicher, dass auch noch jede kleine Verästelung am Ende in einem sinnvollen Gesamtgefüge Platz hat.

"Wo wir waren" beginnt, zumindest erzähltechnisch, am Abend der Mondlandung. Was ein kleiner Schritt für die Menschheit ist, stellt für den Waisenjungen Hardy Rohn den Schritt in ein neues Leben dar. Auch wenn wahrlich nicht alles glatt geht, er das furchterregende Heim doch noch einmal von innen sehen wird und die von allen Kindern besonders gefürchtete Bestrafung im Fass im Keller über sich ergehen lassen muss. In diesem Heim werden Kinder misshandelt und psychisch fertiggemacht, sie werden de facto schon allein dafür bestraft, überhaupt auf der Welt zu sein. Er flieht mit einem älteren Mitschüler, nutzt die Chance, dass das Wachpersonal der Mondlandung folgt und unaufmerksam ist. Vorerst läuft alles nach Plan.

Hardy ist allerdings nicht der Einzige, der an diesem Abend einen Neustart wagt, eine Flucht oder eine Veränderung in die Wege leitet. In diesem Roman ist die Mondlandung jener Moment, an dem alles in Bewegung gerät. So, wie der Roman überhaupt von Fluchten, Neuanfängen und Ausbrüchen geprägt ist, auch wenn es sich bei "Wo wir waren" um keinen Roman über die Mondlandung, die vielleicht nicht zufällig genau 50 Jahre zurückliegt, per se handelt.
So wird "Wo wir waren" ein Roman über das zwanzigste Jahrhundert, das ja nicht nur ein bedrückendes Jahrhundert mit vielen Kriegen, sondern auch ein Jahrhundert der großen Träume war. Ein Jahrhundert, in dem viele Ketten gesprengt wurden.

Zähringer erzählt von Hardys Großvater, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aus einem kleinen Dorf im Rheinland ausbricht, Entdecker werden will und schließlich als Funker zur See fährt. Am Ende bleibt er im Memelland hängen. Dann gibt es Schorsch, der sich nur in Zahlengebilden wohl fühlt, so wohl, dass er für geisteskrank befunden und in ein Irrenhaus verfrachtet wird. Martha Zimmermann flüchtet bei Kriegsende ins Rheinland und sieht als Flucht aus ihrer furchtbaren Ehe nur die Variante des Giftmordes. Außerdem gibt es in Vietnam gefangene Soldaten, die einen wahrlich verzweifelten Ausbruch aus dem Dschungel riskieren. Und Aussteiger, die vor der bürgerlichen Idylle fliehen und als Hippies quer durch Asien reisen.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass genau dieser Teil des Romans der sicherlich erinnerungswürdigste und gelungenste ist. Es ist ungemein stark, wie Zähringer darin nicht nur von brechenden Fesseln und Fluchten erzählt, sondern so in die Tiefe geht, dass die Ebenen wahrlich metafiktional verschwimmen.

Im Mittelpunkt steht allerdings immer Hardy. Und sein Ziehvater, der Schriftsteller Walther Bischoff, Schöpfer unzähliger Science Fiction-Heftchenromane, der mit seinen schrägen Fantasien die 1960er- und 1970er-Jahre beeinflusst und Hardy sanft zu seinem späteren Weltruhm leitet. So wird es zwar nichts mit der Raumfahrt für Hardy, dafür lebt er sich im anbrechenden digitalen Zeitalter in Kalifornien als Programmentwickler und Millionär aus.

All das funktioniert, kommt in diesem Roman prinzipiell gut zusammen. Wie gesagt, Norbert Zähringer scheint diese vielen, so unterschiedlichen Erzählstränge mühelos miteinander verbunden zu haben. Alles liest sich flüssig und logisch. Zähringer kann schreiben. Man staunt sogar ob der Virtuosität, die ganz unspektakulär dafür verantwortlich ist, dass man zwischen den unterschiedlichen Erzählungen nicht verzweifelt aussteigt. Kein Detail ist verschwendet, nichts passiert einfach so, auch wenn man das nicht immer vermuten würde. Wenn Hardys Großvater zu Beginn des Jahrhunderts seine Initialen in einen Baum schnitzt, kann man bei Zähringer davon ausgehen, dass das genauso wichtig sein wird, wie die bei Kriegsausbruch in die Luft geworfene Haube, die natürlich im richtigen Moment in einem anderen Leben wieder auftauchen wird. Das ist effektvoll und hält den Leser gefesselt, ebenso wie der in der Handlung versteckte Kriminalfall. Mehr möchte der Rezensent nun allerdings dazu nicht sagen, weil gewisse Entdeckungen dem zukünftigen Leser vorbehalten sein sollen.

Die Protagonisten dieses Romans bleiben interessanterweise letztlich relativ blass, was vielleicht daran liegt, dass Zähringer ihnen offenbar nur Entweder-Oder-Persönlichkeiten zutraut. Gute sind zur Gänze gut, Böse sind regelrechte Bestien. Und zumeist dazu gleich auch Nazis. Ein weiteres Problem ist, dass, obschon sich alle Fäden zu einem Ganzen verbinden, die Vielzahl der Themen und Geschichten schlussendlich zu einer Art Übersättigung führt. Vielleicht ist in "Wo wir waren" auch die Symbolik ein wenig zu zentral gelagert, was bedingt, dass das Interesse an dem einen oder anderen Strang nachlässt. Es ist schlichtweg ein wenig zu viel des Guten in diesem Roman verpackt, sodass man, wenn man erkennt, dass die Mondlandung de facto aller Menschen Rettung sein soll, ein wenig enttäuscht von dieser dann doch recht aufgesetzten Idee ist.

Dennoch, "Wo wir waren" ist ungemein gut und unter den Neuerscheinungen jüngerer deutschsprachiger Autoren ganz vorne dabei. Stellenweise ist der Roman auch wahrlich grandios. Der Autor will einfach ein wenig zu viel. Doch wer das Weltall erobern will, der muss viel riskieren, auch wenn das dann leider nicht immer wirklich klappt. Das macht Norbert Zähringers Roman dann erneut äußerst sympathisch ...

(Roland Freisitzer; 06/2019)


Norbert Zähringer: "Wo wir waren"
Rowohlt, 2019. 509 Seiten.
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