John Wray: "Gotteskind"
Die
us-amerikanische Dschihadistin
John Wray ist ein äußerst interessanter 1971
geborener Autor. Sohn einer österreichischen Mutter und eines
us-amerikanischen Vaters, lebt er heute abwechselnd in Friesach
(Kärnten) und Brooklyn. Er schreibt hauptsächlich auf
Englisch, aber auch in deutscher Sprache und wurde für einen
deutschen Text beim "Ingeborg Bachmann-Wettbewerb" anno 2017 mit dem
"Preis des Deutschlandfunks" ausgezeichnet. Bereits 2007 wurde er vom
Literaturmagazin "Granta" unter die besten jungen us-amerikanischen
Autoren gewählt.
Seine Romane zeichnen sich, abgesehen von ihrer konstanten
literarischen Qualität und immensen erzählerischen
Kraft, durch ihre extrem unterschiedlichen Themengebiete aus. Es
scheint nichts zu geben, was der Autor nicht können
würde. Sein erster Roman "Die rechte Hand des Schlafes" ist
eine beklemmende Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ausbruchs des
Zweiten Weltkriegs, in "Retter der Welt" ist der Protagonist ein
schizophrener Heranwachsender, der aus einer Anstalt in das U-Bahn
System New Yorks flüchtet. "Das
Geheimnis
der verlorenen Zeit" ist ein absolut irrwitziges
Opus Magnum, das sich an keinerlei Grenzen halten will,
überbordend und ausufernd ist es von Thriller,
surrealistischer Pop-Literatur bis hin zu Science
Fiction so ziemlich alles, was man sich kaum zwischen zwei
Buchdeckeln vorstellen kann. Nun "Gotteskind", im Original "Godsend".
Beide Titel, so unterschiedlich sie scheinen, sind sinnvoll und hier
auch angebracht. "Gotteskind" liest sich natürlich
verständlicher als "Gottesende", obschon "Gottesende" dem
Hintergedanken wahrschlich näher kommt als das
vordergründige "Gotteskind". Sei's drum, das tut diesem
ausgezeichneten Roman nicht weh.
Dass John Wray für diesen Roman in Afghanistan recherchiert
hat, wird rasch klar. Hier gibt es keine Pseudofolklore, keinen
Mittelasienkitsch. Wray recherchierte über einen wirklichen
Fall eines US-Amerikaners, der sich den Taliban angeschlossen hatte und
Ende 2001 verhaftet wurde. Dabei hörte er Gerüchte
über ein Mädchen, das für die Taliban
gekämpft haben soll. Belegbares hat er anscheinend nicht
gefunden, seine Fantasie hat dann aus den beiden Fällen diesen
Roman abgeleitet.
Aden Sawyer, eine achtzehnjährige US-Amerikanerin, macht sich
in Begleitung ihres Freundes Decker, der pakistanische Wurzeln hat, auf
den Weg nach Dubai. Zumindest offiziell, denn eigentlich soll sie ihr
Weg über Pakistan nach
Afghanistan führen, wo sie
sich dem Dschihad anschließen will. Es ist umwerfend, wie
John Wray zu Beginn nur mittels Dialogen eine Szenerie schafft, die das
tiefgehende Zerwürfnis zwischen Aden und ihren Eltern zeigt,
die keine Ahnung haben, was ihre Tochter in Wahrheit vorhat. Sie ist
beeindruckt von den Schriften, die sie über ihren Vater, der
Professor für Islamstudien an einer wichtigen
us-amerikanischen Universität ist, kennengelernt hat. Wer an
dieser Stelle des Buches eine über Befindlichkeiten
hinausgehende Begründung für den in der jungen
US-Amerikanerin aufkeimenden religiösen Fanatismus sucht, dem
sei gesagt: Vertrauen Sie dem Autor. Er weiß, was er tut.
"Die Lichter wurden dunkler, dann heller. Die Taliban
schaukelten im Rhythmus der Koranverse vor und zurück. In den
besten Momenten schien sich Adens Blick ebenfalls zu trüben,
und sie meinte, die Worte zwischen den Zähnen vibrieren zu
spüren; das war, was sie wollte, mehr hatte sie sich nie
gewünscht."
In Dubai angekommen, schlagen sich die beiden nach Pakistan durch, wo
sie in einer Medrese, einer Schule, an der die Philosophie und
Wissenschaft des Islam von einem Muallah unterrichtet wird, lernen
sollen. Nicht unwichtig ist Adens physische Erscheinung - sie hat eine
zierliche, eher androgyne Figur und sich den Kopf kahlgeschoren. In
Pakistan lässt sie ihre Identität hinter sich und
wird zu einem jungen Mann. Sie bandagiert ihren Oberleib und nimmt
hormonelle Medikamente, die ihre Weiblichkeit zusehends
unterdrücken sollen. Sie hat sich auch antrainiert, mit
tieferer Stimme zu sprechen. Dieser Rollentausch ist ein zentrales
Thema dieses Romans, nicht nur der Tausch des Geschlechts, sondern des
alten Lebens gegen ein neues. Ihre einzige Gewissheit ist die, dass ihr
Leben nur als Märtyrerin im Kampf des "Heiligen Krieges" Sinn
haben kann.
"- Seit nahezu dreißig Jahren unterrichte ich nun
junge Männer, Suleyman, und Gott allein verdanke ich es, dass
mein Blick für gewisse Anzeichen geschärft wurde. Er
wölbte die Hand und drehte sie nach oben, wie sie es schon
einmal an ihm beobachtet hatte. - In dir steckt eine Ruhelosigkeit,
Kind, auch wenn du dich bemühst, ruhig zu wirken. Dein
Gefühl für die Schrift ... Er atmete langsam aus. -
Dein Gefühl für die Schrift ist ein verzweifeltes,
sagte er schließlich. - Und ein solches Gefühl kann
sich leicht der Gewalt
zuneigen. Ich habe das schon oft erlebt und
gelernt, darauf zu achten."
Doch bereits hier zeigt sich, dass die Freundschaft zwischen ihr und
Decker erste Risse aufweist. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen
davon, was die beiden sich von den nächsten Monaten erwarten.
Zu unerbittlich und kompromisslos ist Aden, die sich des Risikos, das
sie als Frau unter Männern in dieser Gegend der Welt eingeht,
nicht ganz bewusst ist. In der Medrese wird sie zu Suleyman Al-Nam'ama
und wirft ihren us-amerikanischen Pass weg. Ihre Vergangenheit
löscht sie so gänzlich aus, lässt sich
keinen Spielraum für eine Rückkehr. In der Medrese
und später auch im Camp ist sie, trotz ihrer Sprachkenntnisse
und Hingabe, dennoch die Exotin, die ständig unter Spannung
steht, weil jede kleine Unachtsamkeit zu ihrer Enttarnung
führen würde. Das schafft eine unglaubliche Spannung,
die der Autor bis kurz vor dem Ende konsequent aufrecht erhält.
"In den folgenden sechs Wochen rannte sie bei Tageslicht und
im Dunkeln, schwamm mit Gepäck im Fluss und lernte, ihre Waffe
auseinanderzunehmen, sie zu putzen, mit Motoröl einzufetten
und blind wieder zusammenzusetzen. Nach der ersten Woche rannten sie
barfuß. Aden lernte, in hohem Tempo, doch Kräfte
sparend über Sand zu laufen, über Geröll und
Schotter und dabei Hacke und Spann den Konturen jedes einzelnen Steins
anzupassen. Sie lernte, wie man instinktiv zielt, ohne das Visier der
Kalaschnikow zu benutzen, und wie man sich mit Winkeralphabet oder
Morsezeichen verständigt. Sie lernte, einen Menschen mit einem
Draht, einer Schnur oder einem vom Kopftuch abgerissenen Stoffstreifen
zu erwürgen."
John Wrays intensive Beschäftigung mit dem Islam und den
Taliban führt dazu, dass Adens Figur nie platt fanatisch
wirkt. Sie ist eine Suchende, eine Getriebene, die in ihrem bisherigen
Leben vor allem Halt und Erfüllung vermisst hat und diese im
Islam und dem "Heiligen Krieg" zu finden hofft. Sie stellt Fragen, sie
ist trotz ihrer Selbstaufgabe nie unterwürfig und erlaubt es
so dem Leser, fasziniert ihrem Weg zu folgen. Über den Sohn
ihres Lehrers kommt sie in die ersehnten Mudschahedin-Kreise und wird
Mitglied einer Truppe, die auf dem Weg nach Kandahar und in den
"Heiligen Krieg" ist. Erst hier, gegen Ende des Romans, wird durch die
Ereignisse des
11.
September alles durcheinandergewirbelt.
Frappierend ist auch die Wirkung auf den Leser, die sich deshalb
einstellt, weil John Wray nie verurteilt oder gar eine eigene Meinung
in den Vordergrund stellt, sondern in jeder Zeile bemüht ist,
zu verstehen, und auf der Suche nach den Kern der Sache ist. Es ist
John Wrays schriftstellerischer Begabung zu verdanken, dass
"Gotteskind" nicht einmal ansatzweise in die Nähe eines
Abenteuerromans rückt, obschon Handlungsverlauf und
Hintergrund das stark vermuten lassen könnten. Besonders
interessant ist auch, dass er es schafft, trotz allem Fanatismus und
der ungeheuerlichen Härte, die das Buch besitzt, eine
teilweise unerklärliche Poetik und Schönheit zu
zeichnen. Aden ist eine derart vielschichte und starke Figur, dass man
sich am Ende darüber wundern muss, mit wieviel Sympathie man
ihr trotz aller Abscheu der Gewalt und dem allgegenwärtigen
Unrecht der Sache gegenüber begegnet. Obschon jeder von uns
unendlich viel über den Dschihad, über den Islam, die
Taliban und die Mudschahedin gelesen hat, ist man nach dem Roman um
viel Wissen, mannigfaltige Erkenntnisse und eine teilweise
veränderte Wahrnehmung reicher. John Wray schafft in diesem
unglaublichen, kongenial von Bernhard Robben übersetzten Roman
etwas, das man zuvor nicht für möglich gehalten
hätte: Er schafft es, einer eindeutig falschen,
religiös
motivierten Verirrung einen menschlichen Blickwinkel
abzugewinnen. Er schafft es, überzeugend nachfühlen
zu lassen, wie dünn die Grenze zwischen einer friedlichen,
religiösen Verinnerlichung des Korans und einer fanatischen
Gewaltbereitschaft ist. Dadurch beginnt man zu erkennen, was man bisher
nicht gesehen hat, zu ahnen, was vielleicht unter Umständen
möglich wäre und was nicht. Und das ist schlichtweg
grandios und bewundernswert.
(Roland Freisitzer; 02/2019)
John
Wray: "Gotteskind"
(Originaltitel "Godsend")
Aus
dem Englischen von Bernhard Robben.
Rowohlt, 2019. 344 Seiten.
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