Artjom Wesjoly: "Blut und Feuer"
Sprachgewaltiger
Klassiker über den Russischen Bürgerkrieg, erstmals
in vervollständigter Fassung
Zwar endete der Erste Weltkrieg in Russland etwas früher als
anderswo, ging allerdings
mehr oder weniger direkt in einen Bürgerkrieg, der je nach
Lesart
bis 1920 bzw. (nach Einstellung der letzten Kampfhandlungen im Fernen
Osten) bis 1922 tobte, über. Da dies in der Epoche einer
blühenden, nach neuen Ufern strebenden Literaturszene
geschah, entstanden in und aus diesen Erfahrungen gespeist etliche
Werke von weltliterarischer
Geltung, die für die erlebten Schrecken und
Veränderungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, die
Welt- und Bürgerkrieg (und der Sowjetisch-Polnische, um auch
Isaak Babels zu gedenken)
mit sich brachten, eine adäquate Form fanden.
Eines dieser Meisterwerke ist der vorliegende Roman "Blut und Feuer",
dessen
eigentlicher Titel "Russland, in Blut gewaschen" lautet. Da der Autor
damit aber beileibe keinen Reinigungsprozess andeuten wollte, in dem
Buch unleugbar das eine oder andere Feuer aufflackert und nicht zuletzt
die Übersetzung des Werks eine große Leistung
darstellt (als ein namhafter Literaturwissenschaftler von
einer geplanten polnischen
Übersetzung vernahm, meinte er, man müsste den Text
doch erst einmal ins Russische übersetzen),
soll daran nicht Anstoß genommen werden.
Artjom Wesjoly, der eigentlich Nikolai Iwanowitsch Kotschkurow
hieß, wurde 1899 in Samara an
der Wolga in eine Arbeiterfamilie geboren, deren Erster er wurde, der
lesen und schreiben lernte. Früh begann er zu arbeiten,
schloss sich nach der Februarrevolution den Bolschewiki an, mit deren
Mandat er 1917 als Agitator an der russischen Westfront aktiv war, eine
Tätigkeit, die ebenso in den Roman einfloss wie die
Erfahrungen, die er im darauffolgenden Bürgerkrieg als
Rotgardist am Don und Kuban und als Schwarzmeermatrose sammeln musste.
Ebenfalls dienlich war seine Arbeit als Kriegsreporter für die
Zeitung "Roter Kosak" (beim Anblick eines gewaltigen kosakischen
Reiterheeres hatte er 1920 übrigens die Ursprungsinspiration
zu seinem
Roman), und auch seiner Zeit als Parteikontrolleur des Geheimdiensts,
als welcher er infolge seiner kritischen Artikel über
Willkür, Korruption und
Machtmissbrauch von Sowjetfunktionären in
Führungsposition, insbesondere der berüchtigten
Tscheka, eine Zeitlang
eingesetzt wurde, verdankt der Roman ein paar dutzend Seiten.
1922 wurde er vom Militärdienst freigestellt, zog nach Moskau,
um Literatur zu studieren, und begann bald eigene
Erzählungen zu veröffentlichen. Er schloss
Freundschaft mit dem Kritiker Alexander Woronski und wurde Mitglied der
für völlige
künstlerische Unabhängigkeit eintretenden Gruppe
"Perewal", durch die Freundschaft mit dem Literaturwissenschaftler und
Dichter Alexej
Krutschjonych gelangte er zur "Gruppe der Freunde Chlebnikows" und
einer lebenslangen Verehrung des
magisch-anarchischen Sprachexperimentators und Futuristen, was ihn
indessen nicht daran hinderte, eine Familie zu gründen.
Mit Maxim Gorki spielte ein weiterer Schriftsteller in seinem Leben
eine wichtige, wenn auch zwiespältige Rolle. Durch dessen nom
de plume (Gorki -
der Bittere) angeregt, nahm Kotschkurow schon früh den Namen
Newesjoly, der Unfröhliche, an, woraus dann nach dem Sieg der
Revolution Wesjoly, der
Fröhliche wurde (während der einunddreißig
Jahre ältere Gorki bitter blieb). Gorki schätzte
zwar die literarische Qualität Wesjolys, befürchtete,
als er ihn näher kennenlernte, von
dessen Eigensinn und unverblümter Redeweise jedoch
Übles, verstieg sich sogar zur Bemerkung, der liebe die
Wahrheit ja nur, weil er sie anderen unter die Nase reiben
könne. Dem also pilatusähnlich Spottenden war es auch
vorbehalten,
indirekt den Anfang vom frühen Ende seines
Schriftstellerkollegen einzuläuten, als er, natürlich
im Auftrag des schnauzbärtigen Kaisers, beim 1. Sowjetischen
Schriftstellerkongress 1934 den Sozialistischen Realismus als
neue und ausschließliche künstlerische Staatsdoktrin
proklamierte. 1932 war Wesjolys großer Kriegs- oder wohl
besser Antikriegsroman, von dem er schon in den Zwanzigerjahren
Einzelteile veröffentlicht hatte und an dem er immer wieder
arbeitete,
veränderte, ergänzte (eine auffällige
Ähnlichkeit mit seinem
griechischen Zeitgenossen Stratis
Myrivilis),
erschienen, die letzte solchermaßen verbesserte Ausgabe von
1936 wurde von der mittlerweilen unter gänzlich
veränderten
Rahmenbedingungen stehenden Literaturkritik in der Luft zerrissen, dem
Autor Trotzkiismus, Ästhetizismus, Unterstützung des
Klassenfeindes und
ein Ignorieren der bedeutenden Rolle der kommunistischen Partei
vorgeworfen. Ein Ausreiseversuch scheiterte, Ende 1937
wurde Wesjoly verhaftet und vermutlich am 8. April 1938 von einem
Erschießungskommando hingerichtet.
1958 unter Chruschtschow durfte der Roman, freilich wie schon alle
vorangegangenen Fassungen und Einzelteile nicht unzensiert, wieder
erscheinen, der erste Druck, der ohne Eingriffe auskam, erfolgte erst
1990. Die hier vorliegende, 2017 erschienene wackere deutsche
Übersetzung darf dank
der Forschungstätigkeit der Linguistin
Jekatherina Lebedewa überdies für sich in Anspruch
nehmen, erstmals zwei thematisch zugehörige Texte aus dem
Nachlass Wesjolys dem
Romanganzen einverleibt zu haben.
Was die Kritiker von 1936 besonders störte, dass in dem ganzen
Roman nur Blutvergießen und Chaos sichtbar würden,
keine im Hintergrund geschickt lenkende
Hand der Partei (dafür ungeschminkt deren Willkür und
Anmaßung), keine moralische Überlegenheit der
Sieger, keine auf das
allgemeine Gute gerichtete Vernunft, gehört
tatsächlich zu den Vorzügen des Romans. Ebenso
wichtig wie das wahrheitsgetreue Schildern
tatsächlicher Begebenheiten, eher charakteristischer als
für den Kriegsfortgang wichtiger, ist es dem Autor, den Geist
der Revolution selbst fühlbar zu machen, durch seine
rhythmische, rasch vorwärtsschreitende Prosa, unterbrochen von
häufigen Dialogen und kürzeren, die Handlung
beschleunigenden und
zugleich ein wenig ins Unwirkliche hebenden lyrischen Stellen, durch
völligen Verzicht auf Alltagsszenen und Reflexionen abseits
der Dialoge. Derlei Stilmittel erzeugen eine mitreißende
Wirkung, stürmisch ist dieser den Leser anwehende Atem der
Revolution, und meist allzu heiß oder allzu kalt
(wenn sich beispielsweise ein Soldat nach dem Aufwachen erst
mühsam von der Umklammerung des in der Nacht erfrorenen
Kameraden befreien muss).
Auch eine einheitliche, kontinuierliche Handlung wird zugunsten der
Zerrissenheit des Hin- und Herspringens aufgegeben. Zwar gibt
es mit dem alter ego des Autors namens Maxim Kushel, dem man
über längere Strecken folgt und dabei vermutlich
vorzugsweise Selbsterlebtes (diesbezüglich ist der Roman auch
ein wichtiges Zeitdokument) zu lesen bekommt, so etwas wie einen
Protagonisten, doch auch den verliert man immer wieder aus den Augen.
Mehrmals wechseln die Schauplätze (den Weißen werden
ebenfalls Besuche
abgestattet, ohne dass dabei große Unterschiede festzustellen
wären) und handelnden Personen, einen Schwerpunkt Wesjolys
hierbei bilden die Kosaken, anhand deren
traditioneller Lebensweise er die Veränderungen und
Entwurzelungen, die Revolution und Krieg mit sich brachten, besonders
hervorheben kann. Doch auch Bauern, Städter, Frauen,
Sozialrevolutionäre, Grüne (wie man
unabhängig
operierende Kampfverbände nannte), Ausländer,
Deserteure, Verwundete (mehrmals wird "sparsam
gestöhnt"), Sterbende etc. bekommen (bzw. hatten)
ihre "großen" Szenen, außerdem werden etwa in
Romanmitte vom Autor so genannte Etuden, kleinere Geschichten
über diverse besondere
Einzelschicksale, eingestreut.
Kontinuität findet sich dennoch genug: bei dem blutroten
Gewaltfaden, dem Getriebensein der Akteure, der inneren Verrohung, der
Flucht in Derbheiten und Berauschung, der Verschlagenheit im Kampf ums
tägliche Überleben, dem beinah omnipräsenten
Hunger, den Übergriffen von Menschen und Läusen, all
dies hin und wieder überstrahlt von wahrhaft apokalyptischen
Bildern (Dorfgreise, die auf der Straße knieend vor
den
einrückenden Reitern der Roten, Weißen oder
Grünen in der
Hoffnung, diese dadurch gnädig zu stimmen, mit ihren langen
Bärten den schlammigen Boden säubern, um nur eins zu
erwähnen).
Über die ungebundene oder, wenn man so will,
revolutionäre Sprache,
derer sich Wesjoly bedient, sei zum Abschluss direkt aus dem
kenntnisreichen
Nachwort
von Jekatherina Lebedewa zitiert: "Die Anarchie des
elementaren Volksaufruhrs als Quelle der Revolution prägt den
unbändigen Sprachfluss. Getrieben durch fragmentarische
Syntax, graphisch abgesetzte, treppenförmig
herabstürzende Zeilen,
mündliche Rede, Jargon, volkstümliche
Ausdrücke, umgangssprachliche Wendungen und Lautmalerei, tritt
ein vielstimmiger
Sprachstrom über die Ufer der normierten russischen Rede,
schwemmt alles Übliche, Gewohnte hinweg."
(fritz; 05/2019)
Artjom
Wesjoly: "Blut und Feuer"
Übersetzt von Thomas Reschke.
Mit einem Nachwort von Jekatherina Lebedewa.
Aufbau Verlag, 2017. 640 Seiten.
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Artjom Wesjoly, eigentlich Nikolai Kotschkurow, geboren 1899 als Sohn eines Lastträgers. Fabrikarbeiter, Rotarmist, Matrose der Schwarzmeerflotte, Agitator, Journalist, 1922 Studium. Wegen vorgeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung am 8. April 1938 erschossen.
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Buchtipps:
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In den Jahren 1920/1921 zog der aus Odessa stammende, jüdische
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(Luchterhand)
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Michail
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- ein Meisterwerk der Moderne neu übersetzt von Alexander
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"Die verfluchten Eier" hat
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besticht jedoch nicht durch das Skurrile, das Satirische, sondern
überzeugt mit brutalem Realismus und radikal modernem Stil.
Ein großes Sprachkunstwerk, das in Nitzbergs
Übersetzung zu einem völlig neuen Erlebnis wird.
(Galiani Verlag, Sammlung Luchterhand)
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wird stellvertretender Kriegsminister in der
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anschließen als so weiterzumachen. Bald weiß kaum
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illusionslosen Sprache erzählt. (Kiepenheuer & Witsch)
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Michail
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ausgezeichnet wurde. (dtv)
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