Maarten 't Hart: "So viele Hähne, so nah beim Haus"
Erzählungen
"Sie werden in
Deutschland öfter verkauft, mehr geschätzt und mehr gelesen als Herr
Nooteboom und Herr Mulisch
zusammen, und Hella
S. Haasse ist schon zu alt. Wir wollen Sie, über den Der
Spiegel geschrieben hat, Sie seien 'ein wunderbar altmodischer
Erzähler', und der Rheinische Merkur war sogar der
Ansicht: 'Maarten 't Hart gehört zu den ganz Großen der europäischen
Gegenwartsliteratur'." (S. 192)
Der am 25. November 1944 als Sohn des Totengräbers Paulus (derlei
Informationen würzen eine Biografie ungemein, nicht wahr?) in Maassluis
bei Rotterdam geborene Maarten 't Hart wurde, nachdem er
Verhaltensbiologie studiert hatte, in Warmond bei Leiden freier
Schriftsteller und als solcher bemerkenswert produktiv, wobei der
bibelfeste Atheist und bekennende Liebhaber klassischer Musik auch als
Organist zu glänzen versteht. Und damit nicht, wie so oft, die Mutter zu
kurz kommt: Ihr hat der Autor den autobiografischen Roman "Magdalena.
Eine Familiengeschichte" (anno 2015 auf Deutsch erschienen) gewidmet.
Doch auch den strenggläubigen Vater würdigte der Autor, das betreffende
Buch trägt in der deutschsprachigen Version den weniger als ulkigen
Titel "Gott fährt Fahrrad oder Die wunderliche Welt meines Vaters", im
Original als "De aansprekers. Roman van vader en zoon" anno 1979
erschienen.
Seit dem Jahr 1997 begeistert die von Marianne Holberg angefertige
Übersetzung des erfolgreichen und vielfach ausgezeichneten
Gesellschaftskriminalromans "Das Wüten der ganzen Welt" (1993 in den
Niederlanden unter dem Titel "Het woeden der gehele wereld"
veröffentlicht) eine stetig wachsende Leserschar.
In seiner Heimat gilt der eingefleischte Frühaufsteher Maarten 't Hart
übrigens als provokant-kritischer Intellektueller und manchen mitunter
sogar als (selbsternannter) "Nestbeschmutzer", zumal er sich oft und
gern in öffentliche Diskussionen einbringt, völlig mit dem Calvinismus
gebrochen hat, dem omnipräsenten Feminismus nie etwas Positives
abgewinnen konnte und sich über die Jahrzehnte mit seiner standhaften
Antispießbürgerlichkeit und seiner offenen Ablehnung von verblendeten
Fanatikern jeglicher Art naturgemäß nicht nur Freunde gemacht hat.
Freuden und Leiden eines niederländischen Literaten: Maarten 't Hart
inszeniert gekonnt typische Ausschnitte des Alltagslebens und
mancherlei Wesenseigenheiten seiner Landsleute
Im Original trägt der gegenständlich besprochene Band den Titel (einer
anderen darin enthaltenen Erzählung) "De moeder van Ikabod". Warum für
den deutschsprachigen Markt die vielen Hähne attraktiver sein sollen,
bleibt wohl das Geheimnis hochsensibler Büchervermarktungsstrategen.
Wie auch immer, dieser Band wurde im Jahr 2017 mit dem originellerweise
schwarmfinanzierten "J.M.A. Biesheuvelprijs" ausgezeichnet, das
Preisgeld für den besten niederländischen Kurzgeschichtenband des Jahres
betrug solcherart kuriose 5.105,7 Euro. Maarten 't Hart hat überdies
anno 1975 den "Multatuliprijs" (für "Het vrome volk") und 1994 "de
Gouden Strop" (für "Het woeden der gehele wereld") sowie weitere
Literaturpreise erhalten.
Die erste der achtzehn autobiografisch geprägten vergnüglichen
Erzählungen trägt den Titel "Die Stieftöchter von Stoof". Darin wird
gezeigt, wie ein moralischer junger Mann trotz seiner Unentschlossenheit
vor vielen Jahren die Ehre eines schönen Mädchens gerettet, einen
ungehobelten Klotz in die Schranken gewiesen und dadurch die Erbfolge
einer Traditionsbäckerei nachhaltig verändert hat - ein Lehrstück, nicht
nur hinsichtlich wegweisender weiblicher Entschlossenheit,
Feminismuskritik hin oder her. "Die Knochengrube" führt den Erzähler
unverhofft zu einer seltsamen Londoner Vereinsversammlung, wo er vom
Berufsalltag seines Vaters, der als Totengräber gearbeitet hat, und der
besonders ökonomischen niederländischen Gräberverwaltung berichtet, was
für Erstaunen und Aufruhr sorgt, wobei es für die Zuhörer durchaus noch
dicker kommen soll ...
Die ebenso kesse wie einfallsreiche Studentin Letitia setzt in "Survival
of the fittest" gekonnt ihre Reize ein, um ihr baufälliges Leidener Haus
instandsetzen zu lassen, neugierig und anerkennend beobachtet vom
berichtenden Universitätsdozenten.
Ein gewisser Henk van D. erweist sich in "Der Kompass" als lästiger
Kaufinteressent für ein allerlei Schäden und Mängel aufweisendes
Grachtenhaus, und der mit sehr eigenem Musikgeschmack und besonderem
Feingefühl für menschliches Betragen und freundliche Kommunikation
gesegnete Neufundländer
Robber bringt in "Hundemusik" die Herren eines eingeschworenen
Plattenklubs durcheinander.
Die große Hoffnung und Enttäuschung eines Knaben geben in der
einfühlsamen Erzählung "Wie Gott erschien in Warmond" den Ton an, in
"Die Mutter Ikabods" nimmt ein denkwürdiger Gottesdienst in Abwesenheit
jeglicher Gemeindemitglieder seinen Lauf.
Die Erzählung "Der junge Amadeus" stellt einen Trauergottesdienst mit
ungewöhnlicher akustischer Untermalung und einen arroganten Trompeter in
den Mittelpunkt, in "Der Hauptpreis" sieht sich der bekannte Autor auf
dem Markt in Leiden wieder einmal verwechselt, ist er doch nicht der
Schriftsteller Maarten Biesheuvel. "Die Ladentür" zeigt den Erzähler als
frühmorgendliches Opfer bedrohlicher Krimineller und seines Rufs als
Schriftsteller, "Maartens Hanfplantage" präsentiert ihn als
zwangsbeglückten Gärtner in Bedrängnis, und in "Scheißprotestanten"
belästigt ein einfältiger Zeitgenosse den Prominenten auf dem Bahnhof in
Den Haag.
Ebenso langwierige wie eigenartige Dreharbeiten mit einem deutschen
Fernsehteam und nicht nur kulinarische Enthüllungen aus dem Leben des
Autors werden in "Der Speckpfannkuchen" serviert, anschließend erfährt
man die überraschende Antwort auf die Frage, warum "So viele Hähne, so
nah beim Haus" krähen, weiters, wie und warum sich Maarten 't Hart
beharrlich geweigert hat, "Wohnbootbotschafter" zu werden.
"Eine sehr kurze Geschichte der Musik" offenbart, wieso sechs Männer die
fünf größten Komponisten sind, als Glücksbringer und Lustobjekt findet
sich der Autor sodann "Im Kasino". Von einer Dienstreise nach Schweden,
wo es gänzlich anders als in den Niederlanden zugeht, Presseterminen und
einer plötzlichen Verliebtheit berichtet leicht melancholisch "Der
Wiegestuhl".
Maarten 't Harts abwechslungsreiche Erzählungen zeugen von der lustvoll
zelebrierten Selbststilisierung des Autors als duldsamer Außenseiter,
vom trockenen Humor ihres Verfassers, von seiner ansteckenden
Begeisterung für klassische Musik, von geistreicher, nichtsdestotrotz
launiger lebenslanger Auseinandersetzung mit religiösen Belangen, sie
profitieren von seiner umfassenden Belesenheit und wachen
Beobachtungsgabe, naturgemäß nicht zuletzt von 't Harts
schriftstellerischer Routine.
Der Band "So viele Hähne, so nah beim Haus" bietet gute Unterhaltung,
geizt nicht mit charmant eingeflochtener Kritik und präsentiert
interessante Protagonisten, die viel über die Menschenkenntnis des
Autors und wohl auch ihn selbst aussagen.
(kre; 06/2019)
Maarten 't Hart: "So viele Hähne, so nah
beim Haus. Erzählungen"
(Originaltitel "De moeder van Ikabod")
Übersetzt von
Gregor Seferens.
Piper, 2019. 283 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Magdalena. Eine Familiengeschichte"
Er war der Sohn eines Totengräbers - die interessanteste Person in
seinem Leben aber war seine Mutter. Unnahbar, tief religiös,
eigensinnig und so eifersüchtig, dass sie ihrem Mann jeden Tag den
Kaffee auf den Friedhof brachte, nur um ihn zu kontrollieren.
Schonungslos und doch überraschend liebevoll erzählt Maarten 't Hart
die Geschichte einer ebenso kuriosen wie unerschütterlichen Frau,
einer unwahrscheinlichen Liebe und einer Befreiung.
Leseprobe: "Meine Mutter - zum Glück noch ein Detail, das ich aus
ihren ersten einundzwanzig Jahren in Erfahrung bringen konnte - hat
Jesus ihr Jawort, wie sie das öffentlich gemachte Glaubensbekenntnis
zu nennen pflegte, am 21. November 1940 gegeben. Mein Vater hat am
13. März 1938 sein Glaubensbekenntnis abgelegt. Wenn sie nicht beide
Mitglied derselben Kirche gewesen wären, hätte aus ihnen nie etwas
werden können. Dennoch verbarg sich, obwohl sie derselben
orthodox-calvinistischen Kirche angehörten, eine Schlange im Gras.
Mein Vater stammte aus einer Familie, die nach 1834 die Abscheidung
der Altreformierten mitgemacht hatte, während die Vorfahren meiner
Mutter 1886 Mitglieder der orthodox-calvinistischen reformierten
Kirchen der Niederlande wurden. Diese beiden Glaubensrichtungen
fusionierten 1892 und bildeten zusammen die streng calvinistische
reformierte Kirche (wobei jedoch viele Altreformierte strikt gegen
diese Verbindung waren und sich zur christlich reformierten Kirche
zusammenschlossen). Von einer wirklichen Vereinigung konnte jedoch
nie gesprochen werden, Altreformierte und orthodoxe Calvinisten
bildeten immer zwei Richtungen innerhalb der reformierten Kirche,
und das spürte man sogar bei uns zu Hause. Die Auffassungen meines
Vaters unterschieden sich deutlich von denen meiner Mutter. Er
sympathisierte mit den besonders orthodoxen Strömungen des Calvinismus,
er mochte strenge Pastoren, Bündler, Hölle und Verdammnis predigende
Kanzelredner wie Pastor Venema von der christlich reformierten Kirche
in Maassluis, die einem klipp und klar zu verstehen gaben, dass man
nicht die geringste Hoffnung hegen solle, zu den Auserwählten zu
gehören. Meiner Mutter durfte man mit solchen Schwarzsehern nicht
kommen. Sie vertrat einen fröhlichen Glauben, man sollte den ganzen
Tag über in Jubelstimmung sein, weil man erlöst war durch Jesus und
gereinigt in seinem kostbaren Blut. Leider war sie nicht in der Lage,
diese Freude über die Erlösung auch auszustrahlen. Im Nachhinein denke
ich, sie ist, um ein Modewort zu verwenden, ihr Leben lang depressiv
gewesen. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, dessen natürliche
Fröhlichkeit eigentlich durch nichts gebrochen werden konnte, außer
durch die Tränen meiner Mutter, wenn sie wieder einmal meinte, er habe
einer anderen Frau nachgeschaut.
Auch zwischen meiner Mutter und mir gab es in religiösen Fragen keine
Übereinstimmung, was sich zum Beispiel dann zeigte, wenn sie mich zum
wiederholten Mal ermahnte, Jesus
mein Jawort zu geben." (Piper)
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"Gott fährt Fahrrad oder Die wunderliche Geschichte meines Vaters"
Maarten 't Hart zeichnet voller Liebe das Porträt seines Vaters, eines
wortkargen Mannes, der als Totengräber auf dem Friedhof
seine Lebensaufgabe gefunden hat. Er ist ebenso fromm wie kauzig, ebenso
bibelfest wie schlitzohrig. Die Allgegenwart des Todes prägte die
Kindheit des Erzählers. Und so ist dieses heiter-melancholische
Erinnerungsbuch ein befreiender und zugleich trauriger Versuch, einigen
Wahrheiten auf den Grund zu kommen. (Piper)
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"Die grüne Hölle. Mein wunderbarer Garten und ich"
"Wer ein Leben lang glücklich sein will, der werde Gärtner",
sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Wer sich ein Leben lang
ärgern will auch, würde Maarten 't Hart ergänzen. Der Erfolgsautor
ist selbst seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Gärtner
und weiß nur zu gut: Unkraut vergeht nicht. Niemals! Seine Geschichten
über widerspenstige Gemüsesorten, raffgierige Vögel und den
natürlichen Feind eines jeden Gärtners, die Nacktschnecke!, sind
voller verzweifelter Komik, komischer Verzweiflung und blühender Lebensweisheit.
(Piper)
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"In unnütz toller Wut"
Die junge Lotte Weeda ist Fotografin und will in einer kleinen
katholischen Ortschaft die zweihundert markantesten Persönlichkeiten
porträtieren. Kaum einer kann der Bitte einer so verblüffend schönen
Frau widerstehen. Doch nicht nur Abel, der Graf, soll bald bereuen,
der jungen Lotte Weeda eine Zusage gegeben zu haben ...
Elegant, leichthändig und unerhört spannend erzählt Maarten 't Hart
diese augenzwinkernde Geschichte und zeichnet ein skurriles Porträt
der Bewohner, die offensichtlich nicht nur dem Sex, sondern
zunehmend dem Wahn verfallen sind. (Piper)
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"Das Wüten der ganzen Welt"
In diesem Roman schildert Maarten 't Hart die kleine Welt eines
südholländischen Städtchens. Dort, in der President Steynstraat, ist der
Komponist Alexander Goudveyl als Sohn eines Lumpenhändlers aufgewachsen,
großgezogen mit Gebeten und den alten Geschichten vom Krieg. Dreißig
Jahre später erinnert er sich an diese Zeit, vor allem an den
22. Dezember 1956, einen regennassen Samstagnachmittag, an dem der
Polizist Vroombout ermordet wurde. (Piper)
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"Ein Schwarm
Regenbrachvögel"
Als Wissenschaftler hat er bereits eine steile Karriere hinter sich,
aber in seinen Lebens- und Liebeserfahrungen ist Maarten gescheitert:
ein Sehnsüchtiger, der seiner Kindheit noch nicht entwachsen ist.
Ruhig und gelassen erzählt der Dreißigjährige seine bittere
Geschichte, in immer neuen Erinnerungsbildern geht er den Ursachen
seiner Einsamkeit und seiner Unfähigkeit zur Liebe nach. (Piper)
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"Der Psalmenstreit"
"Du wirst Diderica Croockewerff heiraten und damit basta!" Der
Reederssohn Roemer Stroombreker folgt den Worten seiner Mutter. Doch
seine Bestimmung am Vorabend des Psalmenaufstands ist eine andere ...
Maarten 't Hart versetzt den Leser in das Maassluis des 18.
Jahrhunderts: Dramatische Lebensgeschichte und Zeitbild einer bewegten
Epoche zugleich, ist "Der Psalmenstreit" ein großer Roman über Liebe
und Konvention, Individualismus und Toleranz. (Piper)
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"Die Jakobsleiter"
Immer am Deich entlang wandert der junge Adriaan, vorbei an
Rapsfeldern und blühendem Klatschmohn. Zusammen mit seiner Cousine
Klaske wird er einen paradiesischen Sommertag verbringen - doch an
dessen Ende steht ein Unglück, das Adriaans Leben in eine neue Bahn
lenkt ... (Piper)
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"Das Paradies liegt
hinter mir. Meine frühen Jahre"
"Mich scheint es überall zu geben. Mindestens zweihundert Niederländer
tragen denselben Namen wie ich. Selbst in den Appalachen laufen
Doppelgänger von mir herum. Notgedrungen bin ich ein ausgesprochener
Individualist."
Seine Romane sind bevölkert von Eigenbrötlern, Schelmen und Figuren,
die ihm zum Verwechseln ähneln - Maarten 't Harts Leben steckt in
seinen Büchern. Seine Autobiografie gewährt erzählerische Einblicke in
seine frühen Jahre, die ihm bis heute Geschichten für seine
Fabulierkunst liefern. (Piper)
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"Bach und ich"
Welche Rolle der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach
für das Leben und Schreiben des Schriftstellers Maarten 't Hart
spielt, kam schon in seinem Roman "Das Wüten der ganzen Welt" zum
Ausdruck. Kenntnisreich rekonstruiert der Autor nun die Biografie
Bachs, nähert sich vorsichtig, seriös und dennoch sehr persönlich
seinem Lieblingskomponisten, beschäftigt sich mit der Legendenbildung
und vor allem mit der Musik des großen Meisters. Eine fundierte und
liebevolle Hommage an den Bach der Kantaten, der Kammermusik und der
Konzerte. (Piper)
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