Botho Strauß: "Saul"
Königsdrama anhand der Dramatisierung ausgewählter Abschnitte des Ersten Buches Samuel
Unter dem Arbeitstitel "Gottes falsche Wahl" (welche ihn, wie es in seinen wenige Seiten umfassenden Anmerkungen zum Text heißt, "aus metaphysischen und darstellungspsychologischen Gründen" interessierte) hat sich Botho Strauß intensiv mit der alttestamentarischen Figur des Saul, des ersten Königs von Israel, beschäftigt. In Zusammenhang mit der Frage nach einem möglichen Irrtum Gottes bei Sauls Erwählung (dass diese Gott "reute", wird die Stelle aus dem Ersten Buch Samuel gerne übersetzt) wurde auch schon seinerzeit, von den Autoren der Bücher Samuel, die Interpretation als Bestrafung des Volkes für dessen Begehr nach der Errichtung eines Königtums und also Verletzung des Absolutheitsanspruchs des einen und einzigen Gottes zart angedeutet (freilich nicht, ohne den nötigen Pragmatismus der Zeit zu würdigen - so kümmert sich der Herr trotzdem weiterhin um sein Volk und begibt sich mittels seines treuen Dieners Samuel bald auf die Suche nach einem Nachfolger). Bei seiner Dramatisierung des dreitausendjahrealten Stoffes war es Strauß außerdem darum zu tun, den starken Persönlichkeitsgegensatz der beiden Könige, des finsteren und letztlich glücklosen Saul und des bei den eigenen Leuten fast durchwegs beliebten Strahlemanns und Multitalents David herauszuarbeiten.
Die angefertigte Bühnenfassung ist äußerst vorlagengetreu ausgefallen, bei gleichzeitig starker Reduktion auf das Wesentliche. In einigen wenigen Szenen und gerade einmal sechs Personen, dem Richter und Profet Samuel, König Saul, dessen Sohn Jonathan, dem jungen David, einem Mehrzweck-Boten und einer Frauenfigur, der Magierin, Totenbeschwörerin oder, wie sie in "Saul" genannt wird, Hexe von Endor, entfaltet sich das Drama eines vornehmlich an sich selbst scheiternden Königs. Die Rolle der Hexe wurde dabei als einzige über den Bibeltext hinaus erweitert, alle anderen Personen sprechen weitgehend die ins Deutsche übersetzten Worte der beiden Bücher Samuel; bei seinen eigenen Sätzen hat sich Strauß für eine dazu passende, dezent archaisierende Sprache entschieden. Die vielen Kriegsgeschehnisse und Schlachtenszenen (etwa das sich eines hohen Bekanntheitsgrades erfreuende Duell zwischen David und Goliath) treten zugunsten des Königsdramas etwas zurück, können bei dieser extremen Beschränkung auf eine Art Kammerspiel ohnehin nur in der Erzählung, im Bericht stattfinden. Dass man sich in Zeiten heftiger kriegerischer Auseinandersetzungen, fortgesetzter Überlebenskämpfe von Israeliten, Philistern, Amalekitern und anderen Völkerschaften befindet, erscheint dennoch ausreichend berücksichtigt und findet sich geballt in dem furchtbaren Gassenhauer, den, glaubt man den Autoren des alttestamentarischen Textes (und nimmt sie hier wörtlich), die Israelitinnen jener Zeit, von ebenjener offenkundig brutalisiert, auf den Lippen gehabt haben: "Saul hat tausend erschlagen, David aber zehntausend."
Ein paar wichtige in "Saul" umgesetzte Szenen: der vergebliche Versuch Samuels, dem Volk den Wunsch nach einem König madig zu machen; sein Zürnen gegen den dem Herrn nicht immer gehorsamen Saul; die Speerwürfe des jähzornigen Saul (dem der Herr, wie es mehrdeutig heißt, einen bösen Geist geschickt hat) gegen David; die kleine Intrige Jonathans und Davids mit dem Ziel, das Leben des Letzteren zu bewahren; die Szene vor der Höhle, in der David den Saul beschämt und zum Rückzug bewegt; das Aufsuchen der Hexe und deren Beschwörung des toten Samuel, der seinerseits weissagt (mithin ein recht komplexes Stück Magie, welche der zusehends schlechter regierende Saul kürzlich erst bei Todesstrafe verboten hat); ein Nebenschauplatz der Schlacht gegen die Philister mit dem Selbstmord Sauls; und zum Abschluss die einzige nicht dem Ersten, sondern dem Beginn des Zweiten Buches Samuel entnommene Szene, in der David die Nachricht vom Ausgang der Schlacht, dem Tod Jonathans und Sauls erhält, den Boten töten lässt und sein berühmtes Klagelied anstimmt: "Wie sind die Helden gefallen!"
Botho Strauß zeigt sich in
den angefügten Notizen eine baldige Umsetzung auf Theater- oder
Opernbühnen anlangend recht pessimistisch. Für den Fall des Falles und
sollte der Regisseur vielleicht sogar einen Wunsch des Autors
berücksichtigen wollen, merkt er jedoch an, dass die Freundschaft
zwischen David und Jonathan ohne homosexuelle Anspielungen dargestellt
werden sollte: "Diese Liebe ist die zu einem besten Freund ohne
jede Andeutung eines erotischen Umgangs miteinander, den heutzutage
Vertreter der protestantischen Kirche gern unterstellen, um die
Billigung von Homosexualität in der Bibel zu belegen." (aus
"Notizen zum Text"; S. 84)
Viele Motive des alttestamentarischen Basistextes sind in der
vorliegenden Fassung erhalten geblieben, können verschieden
interpretiert und ausführlicher ausgearbeitet werden: das Bessere als
Feind des Guten, der fehlerhafte Umgang mit Macht, das Festhalten an ihr
wider besseres Wissen, der historische Wechsel von geistlicher bzw.
Recht sprechender zu weltlicher Führung, die Rolle Gottes, der Herrscher
und Profeten dabei, die Abhängigkeit Gottes von den Wünschen, Fragen und
Fähigkeiten der Menschen, die Rigorosität mancher seiner Forderungen
insbesondere in Kriegszeiten, Verzeihliches und Unverzeihliches, das
Spannungsverhältnis zwischen Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit,
religiösen und weltlichen Erfordernissen, Charisma, Depression,
Freundschaft. Dieses alles und manches mehr findet sich nicht nur in dem
dichten, mehrdeutigen Buch des Alten
Testaments, sondern ebenso in "Saul" von Botho Strauß. Auch wenn
der Autor nicht widerstehen konnte, in Bezug auf die Hauptgründe Gottes,
Saul zu verwerfen, ein eigenes (der Außenschale nach zu urteilen,
humanistisches) Ei zu legen, wäre eine Inszenierung, die mit den
Bibeldetails in ähnlicher psychologischer, historischer und
filologischer Gewissenhaftigkeit verfährt, sozusagen dramatische
Bibelforschung betreibt, naheliegend. Und eine Vertonung; und jedenfalls
die entsprechende Musik für die danach verlangenden Stellen.
(fritz; 12/2019)
Botho
Strauß: "Saul"
Rowohlt, 2019. 96 Seiten.
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