Heinrich Steinfest: "Der schlaflose Cheng"
Sein neuer Fall
Monströse
Vergangenheiten, poetische Rachefeldzüge und ein ziemlich
zermürbter Privatdetektiv
Sehr zur Freude der Leserschaft hat sich der einarmige Detektiv -
wenngleich offenbar widerstrebend - abermals aufgerafft, ließ
doch der Titel des anno 2010 erschienenen Kriminalromans "Batmans
Schönheit. Chengs letzter Fall" befürchten, Heinrich
Steinfest habe seinen beliebten Protagonisten in den
verfrühten Ruhestand verabschiedet.
In der Tat steht es nicht allzu rosig um den 56-jährigen
Wiener Privatermittler: Schlaflosigkeit und zunehmende Vergesslichkeit
plagen ihn, selbst kleine Laster bereiten ihm kein Wohlbehagen mehr,
und am Ende der Geschichte wird er aus freien Stücken zum
Vorzimmersekretär seiner vormaligen Sekretärin, der
überaus patenten Frau Wolf, im noblen Büro in der
Taubstummengasse geworden sein und festgestellt haben, dass die
Straße doch noch länger als vermutet ist.
Das Ende von Steinfests vorherigem Roman "Die
Büglerin" weist einige Überschneidungen mit
dem gegenständlich besprochenen Buch auf: Cheng urlaubt auf
Mallorca und wird Augenzeuge des Verschwindens der Touristin.
Eigentlich wollte er lediglich in möglichst
luxuriöser Umgebung einige entspannte Urlaubstage verbringen,
und als er an der Bar mit dem deutschen Synchronsprecher Peter Polnitz
ins Gespräch kommt, kann er nicht ahnen, welche jahrelangen
Verwicklungen und Gefahrensituationen sich aus dieser Zufallsbegegnung
ergeben werden.
Peter Polnitz hütet, ebenso wie Andrew Wake, jener
weltberühmte britische Filmschauspieler, dem er seine Stimme
leiht, ein entsetzliches Geheimnis, beide haben in ihrer Jugend
große Schuld auf sich geladen, sind allerdings mehr oder
weniger unbeschadet bzw. unerkannt daraus hervorgegangen - zumindest
soweit es die öffentliche Wahrnehmung betrifft. Die
Angehörigen und Freunde der damaligen Opfer sind jedoch keine
ohnmächtigen Normalbürger, und sie haben viel Zeit ...
Als Wake nach einem langersehnten Aufeinandertreffen der beiden in
einer einzigartigen Luxussuite eines Londoner Nobelhotels ermordet
aufgefunden wird, fällt der Verdacht sofort auf Polnitz, der
die entsprechende asiatische Kampfkunst beherrscht. Eine am Tatort
abgelegte weiße Tulpenblüte, wie sich
später herausstellt, Signatur eines berüchtigten
älteren Geheimdienstlers, beachtet zunächst niemand.
Polnitz sitzt also in London im Gefängnis, beteuert
hartnäckig seine Unschuld, wird jedoch zu lebenslanger Haft
verurteilt, fand sich doch ein Stück eines seiner
Fingernägel am Toten. Seine Tochter Lis Bischof beauftragt
Cheng mit Nachforschungen, in deren Verlauf der Privatdetektiv von
Polnitz über dessen Jugendvergehen informiert wird und gleich
zwei Verbrechen, die vor Jahrzehnten begangen wurden,
nachspürt und sie schlussendlich aufzudecken hilft.
In London übernachtet Cheng unter Vorspiegelung falscher
Tatsachen in der "Mordsuite" und findet nach dem Erwachen eine ganz
besondere weiße Tulpenblüte sowie ein seltsames
Kochbuch über außerirdische Pilze,
verfasst von
Thomas Or, einem längst verstorbenen Autor - offensichtlich
will Wakes wahrer Mörder sowohl seine Fähigkeiten
demonstrieren als auch Kontakt herstellen ...
Dass der angekündigte Informant kurz vor dem Treffen mit Cheng
vor dessen Augen tödlich verunfallt, drei Häuser in
unterschiedlichen Ländern und ein Höhleneingang in
die Luft gejagt werden, Cheng nach einer gutgemeinten
Entführung zwei Jahre lang in Schottland einem verschwundenen
Romanmanuskript hinterherforscht, all das mündet in die
Erkenntnis, dass auch glückliche Fügungen bestenfalls
aufschiebende Wirkung haben, wenn entsprechend motivierte
Rächer ihre Verbindungen spielen lassen. Rache ist bekanntlich
ein Gericht, das man am besten kalt serviert, in diesem Fall nach
Jahrzehnten des Pläneschmiedens sogar besonders frostig, auf
einer davontreibenden Eisscholle nämlich ...
Der pensionierte, unbeschreiblich unauffällige
MI5-Geheimdienstmann Mills, der britische
Antiquar/Auftragsmörder Thomas Or, Chengs zur Frau
umgewandelter Bekannter Gernot, nunmehr Margot und grandiose Pianistin,
eine deutschstämmige "BBC"-Reporterin, ein in
Island
verheirateter Polizist aus der Schweiz, Chengs nicht mehr unter den
Lebenden weilender, dennoch gelegentlich schemenhaft auftauchender Hund
Lauscher und natürlich die großartige Frau Wolf, die
trotz ihrer häufigen Frisörbesuche über eine
untrügliche Spürnase, exzellente Menschenkenntnis,
beachtliches Organisationstalent und
außergewöhnliche Kombinationsfähigkeiten
verfügt, sie alle tragen das Ihre dazu bei, dass der anhaltend
schlaflose Cheng erneut wie gewohnt brillieren kann.
Interessante Schauplätze, eingestreute Weltbetrachtungen in
typischer Steinfest-Manier, schlau konzipierte Charaktere und eine
temporeiche, spannende Geschichte voller Überraschungen - "Der
schlaflose Cheng" ist wunderbare Lektüre!
Und wer weiß: Vielleicht stellt Heinrich Steinfest in Zukunft
ja die mit Pauken und Trompeten eingeführte Frau Wolf in den
Mittelpunkt seiner Kriminalromane, um den schlaflosen, dennoch
unerhört ästhetischen und gegenwartsweisen Cheng aus
der Verantwortung zu entlassen?
(Franka Reineke; 03/2019)
Heinrich
Steinfest: "Der schlaflose Cheng. Sein neuer Fall"
Piper, 2019. 288 Seiten.
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