Ali Smith: "Herbst"
Grandioser Auftakt zum
"Jahreszeitenquartett"
Die am 24. August 1962 im schottischen Inverness geborene Autorin Ali
Smith, 2015 zum "Commander of the Order of the British Empire" ernannt,
ist sicherlich eine der interessantesten Stimmen Großbritanniens. Ihr
Roman "Herbst" ist der bisher einzige von drei im Original verfügbaren
Romanen der Tetralogie, der ins Deutsche übersetzt worden ist. "Winter"
und "Frühling" folgen sicherlich auf Deutsch bald nach.
Wie üblich bei Ali Smith, muss sich der willige Leser auch hier den Weg
ins Buch erarbeiten. Filigran und dahingehaucht gestaltet sich der
Beginn, kaum greifbar und wenig Richtung gebend. Doch das sollte nicht
davon abhalten, weiterzulesen und sich in Ali Smiths Universum fallen zu
lassen. Denn ist man einmal drinnen in diesem magischen rhythmischen
Spiel der Worte, kann und will man einfach nicht mehr heraus. Und so
stört es auch überhaupt nicht, dass keine stringente Geschichte erzählt
wird.
"Daniel Gluck sieht vom Tod zum Leben und dann wieder zum Tod.
Die Traurigkeit der Welt.
Noch auf der Welt, eindeutig. Er sieht an seinem Laubmantel hinab,
immer noch grün.
Streckt seinen wundersamerweise noch immer jungen Arm vor.
Ewig währt er nicht, der Traum." (S. 20)
Die zwei Protagonisten dieses Romans sind einerseits Daniel Gluck, 101
Jahre alt und in einem Pflegeheim wohnhaft, wo ihn Elisabeth, die zweite
Protagonistin, besucht, um ihm aus einem Buch vorzulesen. Er scheint
eigentlich nicht mehr ansprechbar zu sein, driftet in seinen Gedanken in
Gegenden ab, die vermuten lassen, dass er dem Tod näher ist als dem
Leben. Früher, als Elisabeth noch ein Kind war, hat er oft auf Elisabeth
aufgepasst und ihr Weltbild viel stärker geprägt, als es ihre auch dem
Leser fremd bleibende Mutter getan hat. Ebenso hat er in unendlich
vielen Gesprächen ihre Liebe zur Literatur geweckt und Talente in ihr
gesehen, die sonst niemand bemerkt hat. Die freundschaftliche Beziehung
zwischen Elisabeth und Daniel ist auch der Kern der Geschichte, die in
den aktuellen Passagen in der Zeit direkt nach dem "Brexit"-Referendum,
bei dem eine Stimmenmehrheit der Briten für den Austritt aus der
"Europäischen Union" gestimmt hat, angesiedelt ist.
Nach einer Kränkung hat sich Elisabeth für einige Zeit von Daniel
zurückgezogen, versucht nun aber, möglichst viel von der verlorenen Zeit
gutzumachen, auch wenn die Kommunikation jetzt fast einseitig bleibt.
"Sie liest unablässig in ihrem Buch. Er stupst sie an. Sie hebt den
Blick. Er zwinkert.
Sie spricht es als erste Sprache. Sie weiß, das Flirten ist nur
Oberfläche, weiß genau, wovon sie sprechen. Sie blättert zur nächsten
Seite um, schielt über den Buchrand hinweg erst zu ihm, dann zu den
Passagieren gegenüber.
Ich höre sie. Aber lasse ich mich deswegen vom
Lesen abhalten?" (S. 108)
Elisabeths Leben ist nicht ganz so glorreich verlaufen, wie es hätte
können (wer meint nicht Ähnliches?), sie scheint auch ein ziemlicher
Pechvogel zu sein. Ihr Antrag auf einen neuen Reisepass wird zum
Spießrutenlauf, weil sie zuerst daran scheitert, dass ihr Kopf um fünf
Millimeter zu klein ist, dann ihr vermeintlich Haare ins Gesicht hängen.
Ihre finanzielle Situation ist desaströs, ihr Leben gekennzeichnet vom
Scheitern.
"Unser ganzes Leben, sagt ihre Mutter gerade. Mein ganzes Leben, als
Kind. Am Abend nach der Beerdigung unseres Vaters hat unsere Mutter,
sie wusste wohl nicht, was sie sonst tun sollte, den Fernseher
eingeschaltet, und wir saßen alle da, sie auch, und haben uns The
Waltons angesehen, als ob das irgendetwas hätte helfen können, als ob
dann alles wieder normal gewesen wäre." (S. 221)
Dieses Scheitern könnte man nun auch mit der Vergänglichkeit der
Jahreszeiten in Verbindung bringen, die flüchtigen Gespräche zwischen
den Menschen in diesem Roman als fallende Blätter im immer trüber
werdenden Herbst. All das, ohne jegliche Färbung von Kitsch, wundervoll
poetisch und fein serviert. Die vorhandene Tristesse lässt für den
Folgeroman "Winter" bittere Kälte erahnen, man muss einfach gespannt
sein, was da folgen wird.
Silvia Morawetz' Übersetzung dieser im Englischen von irrsinnig feinem
Sprachwitz gekennzeichneten Prosa ist im Bereich der Möglichkeiten der
deutschen Sprache kongenial gelungen, auch wenn einige Momente einfach
schlichtweg nur daran scheitern, dass es im Deutschen kein annähernd
passendes Gegenstück zur englischen Variante gibt. Gerade deshalb darf
die Qualität dieser Übersetzung nicht unterschätzt werden.
"Es ist, als wäre die Demokratie eine Flasche, und jemand könnte
damit drohen, ihr den Hals abzuschlagen und ein bisschen Schaden damit
anzurichten. Es ist jetzt eine Zeit, in der sich die Leute gegenseitig
nur Sachen an den Kopf werfen, woraus aber nie ein Gespräch entsteht.
Es ist das Ende des Gesprächs." (S. 120)
Es ist äußerst stark, wie Ali Smith die zwischenmenschliche Komponente
zeichnet, die von der Idee des "Brexit" geprägt ist. Mit ganz feinen
Pinselstrichen skizziert die Autorin die Entwicklung der politisch
unsicheren Situation der Briten, die zwischen kleinkarierter Sturheit
oder übertriebener Bürokratie im Fangnetz der dubiosen Entscheidung auch
in eine fast desolate geistige Abstumpfung gleiten. Dafür scheint ebenso
die Beziehung Elisabeths zu ihrer Mutter
zu stehen, die offenbar so etwas wie die Personifizierung des typischen
"Brexit"-Befürworters darstellt. Bewusst verwendet der Rezensent hier
das Wort "scheint", weil in Ali Smiths Welt nie etwas konkret ist und
man als Leser immer wieder dazu angehalten wird, ständig an seiner
Wahrnehmung zu rütteln, darüber nachzudenken und immer wieder neu zu
bewerten. Und ist das nicht ein ganz starkes Erkennungsmerkmal wirklich
großer Literatur?
(Roland Freisitzer; 11/2019)
Ali Smith: "Herbst"
(Originaltitel "Autumn")
Aus
dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, 2019. 266 Seiten.
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