Leïla Slimani: "All das zu verlieren"
Leïla Slimanis Roman "All das
zu verlieren" ist ihr erster Roman, vor "Dann
schlaf auch du" geschrieben. Dank des großen Erfolgs ihres zweiten
Romans folgte die deutsche Übersetzung des Erstlings. Während "Dann
schlaf auch du" in jeder Hinsicht perfekt konstruiert und überzeugend
gelungen ist, hat das nun veröffentlichte Buch einige kleinere
Schwächen, die allerdings nicht verhindern, dass man von der immensen
erzählerischen Kraft der 1981 in Marokko geborenen Autorin beeindruckt
mitgerissen wird.
"All das zu verlieren" bewegt sich über einen sexuell aufgeladenen
Spannungsbogen auf einen implodierenden Höhepunkt zu, der so
abgrundtiefe Einblicke in eine derart destruktive weibliche Sexualität
bietet, dass es schlichtweg unmöglich ist, von diesem Roman nicht
fasziniert zu sein. Während es in der Vergangenheit hauptsächlich
männliche Autoren waren, die sich eingehend mit gewaltbereiter
Sexualität beschäftigt haben, von Georges Bataille bis hin zu Michel
Houellebecq, ist Leïla Slimanis weibliche Perspektive derart
überzeugend direkt, dass es teilweise wahrlich weh tut.
"Ihr Verlangen lässt sie rückfällig werden. Der Damm ist gebrochen.
Was nützt es da noch, sich weiter zusammenzureißen. Davon wird das
Leben nicht besser. Ihre Logik ist jetzt die einer Opiumsüchtigen,
einer Spielerin. Sie ist so zufrieden, der Versuchung ein paar Tage
widerstanden zu haben, dass sie deren Gefahren längst vergessen hat.
Sie erhebt sich, zieht an dem klebrigen Hebel, die Tür geht auf."
(S. 11)
Die Protagonistin Adèle ist Journalistin, die dank eines Bekannten ihres
Mannes zum Arbeitsplatz in der Redaktion gekommen ist. Lustlos müht sie
sich durch den Arbeitstag, nur Dienstreisen genießt sie. Ebenso lustlos
geht es in ihrer Ehe zu, weil Adèle gelangweilt ist. Vom Leben, wie auch
vom Familienleben. Dabei hat sie eigentlich alles, was sie sich seit
ihrer eher ärmlichen Kindheit in einer Arbeiterfamilie gewünscht hat.
Einen erfolgreichen Arzt als Mann, ein gesundes Kind und genug Geld, um
all das zu tun, was sie gerne tun möchte. So verweigert sie sich
sukzessive in der Ehe und im Beruf. Ihre Sucht ist die Sexualität. Sie
kann nicht anders, als mit unterschiedlichen und möglichst vielen
Männern zu schlafen, sie braucht (man verzeihe die Verwendung dieses
Wortes im Kontext) es einfach. Immer und immer wieder. Dabei macht sie
weder vor Freunden ihres Mannes, noch vor dem Chirurgen halt, der ihren
Mann soeben operiert hat. Ruhelos streunt sie durch Paris, immer auf der
Suche nach einem neuen Kick. Und wenn es nur ihr Chef ist, der sie auf
einer Firmenfeier oral benutzt. Immer weniger reicht das, was sie
bekommt.
"Nach ein paar Metern hat Matthieu in einer Seitenstraße des
Boulevard Montparnasse geparkt und ihren Rock hochgeschoben. 'Das
wollte ich schon immer tun.' Er hat Adèles Hüften gepackt und den Mund
auf ihre Vagina
gepresst.
Am nächsten Tag hat Lauren sie angerufen und gefragt, ob Matthieu über
sie gesprochen habe, ihr gesagt habe, warum er nicht bei ihr habe
übernachten wollen. Adèle hat geantwortet: 'Er hat nur von dir
geredet. Du weißt genau, dass er nicht von dir lassen kann.'" (S.
47)
Währenddessen träumt ihr Mann davon, Paris zu verlassen, seine
Nachtdienste zurückzuschrauben und auf dem Land irgendwo ein Häuschen zu
kaufen, dort seiner Tätigkeit nachzugehen und ein weiteres Kind mit
Adèle in die Welt zu setzen. Dass er Adèle mit diesem Wunsch immer
weiter in ihre Einsamkeit zurückdrängt, ist ihm nicht bewusst. Adèle
möchte unter keinen Umständen aufs Land ziehen, schafft es aber nicht,
ihren Mann umzustimmen.
Die Sehnsucht nach Gewalt wird bei ihr immer stärker. Ihr Sohn wird zum
lästigen Beiwerk, der Mann ist sowieso nie da, und wenn doch, ahnt er
gar nichts. Dass das nicht gut gehen kann, ahnt man, obschon
überraschend ist, wie lange es dann doch dauert, bis das ganze
Lügenkonstrukt in sich zusammenbricht.
Immer größer wird die Kluft zwischen der von Adèle aufrecht erhaltenen
Fassade und ihrer wahren Innenwelt. Sie hat keine Illusionen mehr, auch
keine Skrupel, sie empfindet im Moment, als sie erfährt, dass ihr Mann
einen Unfall hatte und länger im Spital bleiben wird müssen, Freude
darüber, jetzt auch die Wohnung für ihre Sucht zur Verfügung zu haben.
Je mehr sie ihre Sucht auslebt, desto einsamer ist sie. Ein
Teufelskreis, aus dem sie erst herausgeschleudert wird, als alles
auffliegt.
"Paris liegt wie ausgestorben da im orangefarbenen Schein der
Straßenlaternen. Der eisige Wind hat die Brücken leer gefegt, die
Stadt von Passanten befreit, das Pflaster sich selbst überlassen. In
einen dicken Umhang aus Nebel gehüllt, bietet die Stadt Adèle den
idealen Nährboden für Träumereien. Sie fühlt sich beinahe wie ein
Eindringling in dieser Umgebung, sie sieht aus dem Fenster, als spicke
sie durch ein Schlüsselloch. Die Stadt erscheint ihr endlos, sie fühlt
sich anonym. Sie kann nicht glauben, dass sie an irgendjemanden
gebunden sein soll. Dass jemand sie erwartet. Dass man auf sie zählen
könnte." (S. 105)
Danach gibt es einen kapitalen Schnitt. Die kleine Familie lebt nun auf
dem Land, und Adèle bemüht sich inständig, eine brave Ehefrau zu sein.
Verweigert sich nicht der Überwachung ihres Mannes, der nun natürlich
misstrauisch ist. Nicht beantwortete Anrufe oder leichtes Zuspätkommen
ist für ihn bereits eine Qual. Ihr zurückhaltendes Leben ist für sie nur
mehr ein blasser Abklatsch ihres Daseins, das sie akzeptiert, weil sie
ihre Familie unter keinen Umständen verlieren will. Als ihr Vater
stirbt, reist sie zur Beerdigung, und als alles bereits beruhigt
scheint, verliert sie den Kampf gegen ihre Sucht.
"Sie wird brutal aus dem Schlaf gerissen. Hat kaum Zeit, sich
bewusst zu werden, dass sie nackt ist, dass sie friert und dass ihre
Nase in einem vollen Aschenbecher steckt. Sie schüttelt sich vor Ekel,
der Gestank wühlt ihre Eingeweide auf. Sie versucht, die Augen
zuzumachen, dreht sich um, fleht die Müdigkeit an, sie zu
verschlucken, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien. Mit
geschlossenen Lidern versinkt sie im schwankenden Bett. Ihre Zunge
verkrampft sich, es tut höllisch weh ..." (S. 119)
Beeindruckend ist in jedem Fall, wie lakonisch und ruhig Slimani das
Innenleben ihrer getriebenen Protagonistin zeichnet. Ihre Zerrissenheit
liegt aufbereitet vor dem Leser, so sehr, dass man aus Schamgefühl
wegschauen möchte. Der Leser ist gefangen in einer Mischung aus
Voyeurismus, Ekel und Faszination, während er die auf die Katastrophe
zueilende Wandlung der Protagonistin miterlebt. Überraschend ist, dass
bei der Übersetzung einiges etwas altbacken und befremdlich wirkt. Das
mag aber auch ein stilistisches Problem des Originals sein.
Nichtsdestotrotz ist "All das zu verlieren" ein starker Wurf, der
kleinere Schwächen locker wegsteckt und die Geburt einer großen Stimme
zeigt.
(Roland Freisitzer; 05/2019)
Leïla Slimani: "All das zu verlieren"
(Originaltitel "Dans le jardin
de l'ogre")
Aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand, 2019. 218 Seiten.
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