Christoph Ransmayr: "Morbus Kitahara"
Die verletzte Welt:
verbrannt, vereist, versteinert
Dieser erstmals anno 1995 publizierte kraftvolle Roman des 1954
geborenen Schriftstellers Christoph Ransmayr ist inzwischen in etlichen
Neuauflagen erschienen. Sein Titel, "Morbus Kitahara", bezeichnet die
heutzutage Retinopathia centralis serosa genannte plötzlich
auftretende Erkrankung der Netzhaut des Auges.
Dieses Leiden, das Christoph Ransmayr am eigenen Leib erfahren hat,
macht sich durch Ansammlung von Flüssigkeit unter der Netzhaut
bemerkbar, wodurch zentral im Gesichtsfeld auftretende graue oder
schwarze Flecken, Blendwirkungen und Verzerrungen sowie Nachlassen der
Farbwahrnehmungsfähigkeit ausgelöst werden. Vorwiegend sind ehrgeizige
Männer mittleren Alters davon betroffen. Als einer der möglichen
Auslöser gilt heutzutage Stress, weshalb der Begriff "Managerkrankheit"
herumgeistert. Es handelt sich in den meisten Fällen um vorübergehende
Beeinträchtigungen, Spontanheilungen geschehen nicht selten innerhalb
von drei bis sechs Monaten, wobei dauernde Sehbehinderungen anhalten
können, gelegentlich kehrt die Erkrankung auch zurück und wird
chronisch.
In Ransmayrs Roman erwischt diese Beeinträchtigung nach einem in
mancherlei Hinsicht aufwühlenden, von den Besatzern in ihrer
allumfassenden Fürsorglichkeit angesetzten Rockkonzert den ehemaligen
Nachwuchsschmied von Moor, den Mittzwanziger Bering, der den blinden
Fleck, das "Loch" in seiner Welt, jedoch zunächst geheimhält, just
während einer nächtlichen Autofahrt auf halsbrecherischen Straßen.
In diesem Roman, an dem er sieben Jahre lang gearbeitet hat, entwirft
Christoph Ransmayr mit kühlem Blick wortgewaltig eine beklemmende
Geschichte über einen nach Kriegsende verwüsteten, durch den "Frieden
von Oranienburg", dieser wohl vom legendenumrankten
"Morgenthau-Plan" des Jahres 1944 inspiriert, der Siegermächte zum
isolierten Büßerort bestimmten Flecken Erde namens Moor an einem See im
Schatten eines Hochgebirges und seine Bewohner.
Den Auftakt bildet freilich die nur dem Leser enthüllte Auffindung
dreier Leichen auf einer als unbewohnt geltenden, in Brand stehenden
Insel vor Brasilien, sodann führt die Handlung zurück in jene
verheerende mitteleuropäische Kriegsnacht, als unter Bombengetöse
Bering, der zweite Sohn des in den Kriegswirren in Afrika verschollenen
örtlichen Schmieds, in einem Keller das Dunkel der Welt erblickt.
Schon früh zeigt sich die Außergewöhnlichkeit des extrem
geräuschempfindlichen Kriegskinds, das seine erste Zeit in einem
vernagelten Raum mit Hühnern verbringt und fortan über eine besondere
Beziehung zu Vögeln verfügt. Und als mit dem letzten Zug vor der
angeordneten Zerstörung der Geleise der Schmied aus der
Kriegsgefangenschaft heimkehrt, ist dieser für seine Frau und seine
Söhne ein mehr oder weniger Fremder.
Berings Jugendjahre sind geprägt von der zunehmend in religiöse
Wahnwelten abtauchenden Mutter, vom erblindenden, kriegstraumatisierten
Vater, vom Tod des einen und der Auswanderung des anderen Bruders.
Bering übernimmt vorerst die Schmiede, erweist sich als äußerst
geschickt im Umgang mit mechanischen Gerätschaften aller Art, seien es
Motoren oder später auch Vogelmodelle, und entwickelt eine
schicksalhafte Leidenschaft für Schrottobjekte, allerdings auch einen
immer wieder verhängnisvollen Hang zum Gebrauch von Schusswaffen.
Im Alter von neun Jahren wird er Zeuge prägender Ereignisse, als Ambras,
"der Hundekönig", die von einer wilden Hundemeute besetzte
"Villa Flora" geradezu erobert, und vierzehn Jahre später will es der
Zufall, dass Bering in die Dienste ebendieses "Hundekönigs" als Fahrer,
Handwerker und bewaffneter Leibwächter eintritt. Mit dem von Bering
instandgesetzten und optisch veränderten Privatautomobil, dem einzigen
weit und breit, "die Krähe" genannt, erregt das Duo immer
wieder Aufsehen und sorgt für Gemunkel, hat doch der junge Schmied seine
Eltern zurückgelassen, auf sein Erbe verzichtet und ausgerechnet beim
Liebkind der Besatzer Unterschlupf gefunden.
Ambras, einst glücklich verliebter Fotograf, danach geschundener und
gefolterter Zwangsarbeiter im Granitsteinbruch und Schotterwerk von
Moor, nach seiner Befreiung rastlos unterwegs gewesen und seit seiner
freiwilligen Rückkehr dessen von den Besatzern eingesetzter, der
örtlichen Bevölkerung verhasster Verwalter, leidet unter seiner
Vergangenheit und den körperlichen Folgen des Lagerdaseins, was ihn zum
einsamen Überlebenskünstler, zum Sammler kostbarer Steine und zum
wortkargen Hundeflüsterer gemacht hat.
Wie auch Lily, Tochter eines enttarnten Kriegsverbrechers, genannt "die
Brasilianerin", die mit ihrem Maultier ausgedehnte
Tauschhandelsreisen in unterschiedliche Besatzungszonen unternimmt, in
einem Turm haust, regelmäßig mit aus einem von der Zeit vergessenen
Lager stammenden Waffen als unfehlbare Scharfschützin Jagd auf brutale
Banden im Steinernen Meer macht, häufig beim "Hundekönig" zu Gast ist
und Bering beim Rockkonzert gehörig den Kopf verdreht hat.
Jede der drei emotional zerrütteten Hauptfiguren lebt meistens gänzlich
abgetaucht in ihrer eigenen Welt, bestimmt von Geheimnissen,
Erinnerungen und traumatischen Ereignissen, argwöhnisch beobachtet von
den übrigen Einwohnern. Die Einzelgänger begegnen einander mit
wechselndem Interesse, man respektiert ganz natürlich den Wunsch des
Anderen nach Distanz und Privatsphäre, außer man ist gerade, wie Bering,
unglücklich verliebt. Und manchmal ergeben sich außergewöhnliche
Gespräche oder eher Monologe, wie beispielsweise, als der grundlos
eifersüchtige Bering unter einem Vorwand das Zimmer des "Hundekönigs"
durchsucht, dieser ihn dabei überrascht und während der anschließenden
Bootsfahrt erschütternde Details aus seinem Leben preisgibt.
Vergeltungssucht und Rachegelüste führen dazu, dass primitiv anmutende
Lebensumstände im gewaltsam abgeschotteten Moor und der Umgebung
bewahrt, die quasi in der Zeit zurückversetzten Einwohner gnadenlosen
Sühne- und Bußdiensten unterworfen und von gewalttätigen
vagabundierenden Banden heimgesucht bleiben. Denn die Siegermächte
wollen sich mit einem erstarrten Schattenweltsort tätiger Zwangsreue
voller lebenslang zu Bestrafenden, besiegten Anhängern des
hinweggefegten Gräuelregimes, schmücken. Doch sie haben nicht bedacht,
dass Zwangsrituale ohne innere Beteiligung der Ausführenden nicht
prinzipiell bei allen Besiegten und deren Nachkommen dauerhaft die
erwünschten Folgen zeitigen ...
Der örtliche Machthaber in den ersten Nachkriegsjahren, Major Elliot,
inszeniert regelmäßige "Parties" nach Originalfotovorlagen, um
den einstigen Schrecken des Lagerlebens der Zwangsarbeiter im Steinbruch
nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, Mahnmale werden errichtet und
die Einwohner verhältnismäßig milde, doch anhaltend gedemütigt. Die
speziellen "Stellamour-Parties" finden ganz im Sinn des
gleichnamigen "Friedensbringers" statt, doch mit den Jahren
und Jahrzehnten verkommen auch die Sühnegesellschaften zu
sektiererischen Relikten mit Folklorecharakter. Die einfachen Leute
haben sich längst murrend mit ihrem Verliererschicksal, dem Leben als
Selbstversorger unter ärmlichen Umständen, arrangiert.
Am Ziel der beschwerlichen und ereignisreichen Reise mit Passierscheinen
ins Tiefland zu Pferd und Maultier, Berings Vater muss nämlich aufgrund
seines verwirrten Geisteszustands in ein Veteranenlazarett nach Brand
gebracht werden, stellt sich heraus, dass die gesamte Seeregion
kurzerhand zum Truppenübungsgelände der nach wie vor omnipräsenten
Kriegsgewinner umgewandelt, die Bevölkerung unter falschen
Versprechungen in Lagerbaracken zwangsumgesiedelt wird. Der erschöpfte
Steinbruch wird geschlossen, die Maschinen werden demnächst nach
Brasilien abtransportiert. Die Weltpolizei von eigenen Gnaden benötigt
nämlich einen angemessenen Spielplatz ...
Bering traut seinen Augen kaum, als er die moderne Welt in Brand zum
ersten Mal erblickt: Elektrizität immer und überall, flimmernde
Fernsehbildschirme, Geleise und Züge, Automobile, Geschäfte voller
Konsumgüter! Die Stadt befindet sich gerade im Freudentaumel, wurde doch
endlich Japan, der bislang einzige unbesiegte Widersacher des
unausweichlich friedensbringenden Weltpolizisten Amerika, mittels einer
Atombombe zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen, und das im dritten
europäischen Friedensjahrzehnt.
Nach einer Nacht voller verstörender Erlebnisse lässt sich Bering im
Militärlazarett untersuchen und erhält die ungemein erleichternde
Diagnose.
Per Besatzerhubschrauber geht es zurück nach Moor, wo "die Krähe"
von wütenden Einwohnern in Brand gesteckt worden ist, mussten doch alle
Arbeiter des Steinbruchs entlassen werden.
Ein Captain verkündet per Lautsprecher den neuen Verwendungszweck der
Seeregion, Bering vermag die mutwillige Zerstörung seines fahrenden
Kunstwerks nicht zu verwinden, und zu allem Überfluss scheint Ambras den
Aufbruch nach Brasilien, wo er einen neuen Steinbruch bewirtschaften
soll, gar nicht erwarten zu können, ebenso wie Lily, die als
Auswandererkind in Moor Gestrandete.
Während der ebenso eintönigen wie langen Zugfahrt durch die
mitteleuropäische Nachkriegssteppe mit ihren Besatzungszonen und der
schier endlosen Schiffsreise nach Brasilien eignet sich Bering neues
technisches Fachwissen an, Lily erweitert ihre Portugiesischkenntnisse,
Ambras versinkt immer tiefer in sein Grübeln. Doch der Zielort Pantano
(übersetzt: Sumpf, also erneut etwas wie Moor!) erweist sich keineswegs
als Paradies. Die Anlieferung der im Steinbruch des örtlichen Patrons
Senhor Plínio de Nacar benötigten Maschinen vom Hafen sowie dessen
eigene Ankunft verzögern sich infolge anhaltender Unwetter, das
feuchtheiße Klima und die alle Sinne anstachelnde Umgebung treiben bei
den Ankömmlingen seltsame Blüten. Als das Trio aus Moor unter der
Führung einer Einheimischen just die Ilha do Cão, die Hundsinsel, einst
ein Sträflingslager, wo Buschfeuer lodern und verwilderte Hunde
ihr Unwesen treiben, aufsucht, nehmen in den Ruinen der Déjà-vu-Umgebung
unheilvolle, wenngleich letztendlich absolut schlüssige dramatische
Ereignisse ihren Lauf, denen nur eine der Hauptfiguren lebend entkommt,
was zum einprägsamen ersten Satz des Romans zurückführt: "Zwei Tote
lagen schwarz im Januar Brasiliens."
Der in 34 Kapitel gegliederte Roman "Morbus Kitahara" konstruiert mit
kunstvollen poetischen Mitteln ästhetisch eisgekühlte Szenerien, in
denen mythologische Extremcharaktere infernalische Versuchsanordnungen
bevölkern, es entsteht eine ganz besondere historische Fiktion, wobei
weder exakte Verortungen noch Verzeitungen möglich sein sollen -
postmodern eben, eine Fundgrube für Assoziationen und Interpretationen.
Man erlebt Ransmayrs einstige Erzählwucht und die daraus geborene
grandiose atmosphärische Dichte in Vollendung.
Nicht zuletzt zahlreiche ausgedehnte Reisen und seine Aufnahmefähigkeit
ermöglichten es dem Autor, berückende Natureindrücke in Sprache Gestalt
annehmen zu lassen, seien es Gesteinsformationen, Wettererscheinungen,
klimatische Bedingungen, der Wechsel der Jahreszeiten - oder auch
Bestandteile diverser Apparaturen.
Eine Fortsetzung mit dem Titel "Tunnelblick" wäre aus heutiger Sicht
vielleicht eine spannende Angelegenheit, zumal auf Grundlage
zeitgeistiger Entwicklungen auf dem Sektor gewisser international
agierender Vereinigungen, welche sich unter Einsatz sagenhafter
finanzieller Mittel anstrengen, Gegenwart und Zukunft im Sinn
fremddefinierten Fortschritts aufzumischen und die Lebenswelten ihrer
"Feinde" unter verwegenem Einsatz scheinmoralischer Phrasen und Floskeln
umzukrempeln.
"... dass sie alle, jeder für sich, etwas Fremdes in diesen Frieden
verschleppt hatten, etwas Unbegreifliches, den Keim eines Übels, das
immer dort zum Ausbruch kam, wo Menschen allein waren mit sich und
ihresgleichen ..." (S. 305)
(kre; 12/2019)
Christoph
Ransmayr: "Morbus Kitahara"
Fischer. 440 Seiten.
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