Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen"
Geschmackvolle Skizze Armeniens und der Armenier
Erstmals seit sie sich unter
die Schriftsteller gereiht hat, beschäftigt sich Katerina Poladjan in
ihrem neuen Roman "Hier sind Löwen" mit Armenien und den Armeniern,
denen sie selbst, wie unschwer am Familiennamen ablesbar, entstammt.
Ihre Heldin, Helene Mazavian, hat indessen nur eine armenische Mutter
(und vermutlich einen deutschen Vater), außerdem ein abgeschlossenes
Kunstgeschichtestudium, dem sie theoriemüde, wie sie danach war, und bei
einem Praktikum an der Süleymaniye-Bibliothek in Istanbul auf den
Geschmack gekommen, das Erlernen des Buchbinderhandwerks folgen ließ.
Der Roman hebt damit an, dass die Enddreißigerin Gelegenheit erhält, ihr
Fachwissen als Buchrestauratorin einige Monate, von Anfang Herbst bis
Jahresende, im staatlichen Archiv von Jerewan anzuwenden und zu
erweitern, und da ist sie nun (der Nachname plötzlich in, wie sie
befindet, fonetischer Gesellschaft): "Siebzehntausend Handschriften
und Bücher werden in den Kellern und Kammern des Archivs verwahrt,
Karten, Folianten, Stiche in Regalen, Schubladen und Panzerschränken,
und immer deutlicher höre ich im Rauschen der Lüftungsanlage das
Raunen ihrer Wörter und Stimmen." (S. 5)
In diesem die Bücherliebhaberin anheimelnden Gebäude findet sie in den kommenden Herbstmonaten ihren Lebensmittelpunkt, hier hockt sie die meiste Zeit, vertieft in ihre Arbeit, hier schließt sie auch die ersten neuen Freundschaften. Mit ihrer Chefin Evelina, von der sie sich ein wenig unter die Fittiche nehmen lässt, und deren an den Rollstuhl gefesselten, über eine beeindruckende Sammlung alter Teetassen verfügenden Mann Araik, mit ihrem Kollegen Levon, der die weitverbreitete armenische Ignoranz gegenüber homosexuellen Neigungen illustriert und Helen mit Ano, einer vor einem Jahr ins Mutterland geflüchteten armenischen Syrerin aus Aleppo, bekannt macht. Von Ano wiederum, mit der sich Helen erst zusammenraufen muss, danach jedoch umso enger wird, erfährt Helen und mit ihr der Leser manches über innerarmenische Vorurteile, aber auch Persönliches über Helen selbst, da Ano der Vielfragerei Helens (anscheinend die dieser eigene Art, aktiv zu werden) mit gleicher Münze begegnet.
Das Land lernt Helen
hauptsächlich über Gespräche in ihrem Bekanntenkreis kennen, sie selbst
erkundet es nur zaghaft. Ihrer Mutter Sara, einer nervösen, ständig in
Eile befindlichen Collagen-Künstlerin (worin diese unter anderem Fotos
toter armenischer Kinder und kaputtes Spielzeug ihrer Tochter
verwendet), steht Helenes Rhythmus derart entgegen, dass man eine
töchterliche Gegenreaktion vermuten könnte. Die seltenen Telefonate, die
die beiden führen, lassen ihre Gegensätzlichkeit, ohne dass diese
eskalieren würde, immer wieder deutlich zu Tage treten - weder findet
Helene, wie sie anscheinend sollte, Jerewan hässlich, noch besucht sie
möglichst rasch die wichtigsten Attraktionen der Hauptstadt.
Etwas hat ihr Sara aber doch mitgegeben, geradezu aufgedrängt, was im
weitern eine Rolle spielen und Helene im Land herumkommen lassen wird:
ein altes Foto, dreizehn ernste schwarzweiße Gesichter, welches die
Großmutter und einige Verwandte (auf die Suche von deren Nachfahren sich
die Enkelin begeben wird) zeigt. Im Zuge ihrer Recherche erhält Helen
schließlich doch auch einen prächtigen Blick auf den sagenumwobenen, den
Armeniern nahezu heiligen Berg Ararat: "Diese wuchtige Anhäufung
von schneebedecktem Gestein, entstanden durch willkürliche Gewalt
tektonischer Verschiebungen und geologischer Zufälligkeiten, tat
wirklich alles, um zu beeindrucken. Rechts ein kräftiger Rücken, links
eine scharfe schwungvolle Linie, die sich tief hinabzog, eine rasante
Rampe für die Arche
Noah." (S103)
Etwas, worin sich Helene als
gar nicht zögerlich erweist, ist eine bald nach der Ankunft begonnene
Liebesbeziehung zu einem jungen Mann, der sie nicht nur als solcher,
sondern auch als Musiker anzieht - sein Hauptberuf, Soldat der
armenischen Streitkräfte (hier kommt nun unvermeidlich auch der
Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan
zur Sprache) stößt sie zwar eher ab, doch erfährt sie den erst, als es
schon zu spät ist.
Nicht nur wegen dieser Zwiespältigkeit gehört die Liebesgeschichte zu
den gelungenen Romanpassagen, das ruhige Wesen der Heldin geht Hand in
Hand mit der Stärke der Schriftstellerin, Gefühle und auch sonst viel
Unausgesprochenes indirekt, durch dezente Andeutungen in den Dialogen
anklingen zu lassen, dies gilt ebenso für eine weitere Reihe von
Telefonaten, welche Helene parallel dazu mit ihrem in Deutschland
verbliebenen Freund Danil, einem Mediziner, führt, auch hierbei entsteht
für den Leser viel Interpretationsspielraum, nicht nur, wenn er den
Unwillen vieler Armenier, an Zufall zu glauben, teilt.
Die ausführlichste
Nebenhandlung, die sich bald von den Armenienmonaten Helenes abspalten
und diese bis zum Romanende immer wieder für wenige Seiten unterbrechen
wird, hat ihren Ursprung in einem Familienevangeliar, einer etliche
Jahrhunderte alten handschriftlichen Familienbibel, die Helene
restaurieren und besser konservieren soll. Nachdem erst die eine oder
andere Zeichnung humorvoll beschrieben wird, stößt Helene auf die dem
Bibeltext beigefügten Worte "Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass
er aufwacht.". Ihre Fantasie wird dadurch derart angeregt, dass
daraus die Geschichte vom kleinen Buben Hrant und seiner sieben Jahre
älteren Schwester Anahid (an der Stelle bei Matthäus vom übers Wasser
wandelnden Jesus wurde dreimal der Mädchenname Anahid eingefügt)
entspringt, welche als Einzige ihrer Familie die Massaker des Jahres
1915 überleben, bei ihrem einsamen Umherirren durch feindliches,
jedenfalls lebensgefährliches Land manches Abenteuer zu bestehen haben.
Diese Nebengeschichte vermag allerdings nicht gänzlich zu überzeugen, da
ihr entweder der Adel der Authentizität oder eine dem Stoff gemäße, sei
es eher fantastische, sei es eher realistische, Erzählweise fehlt, die
kurzen, klaren Sätze der Autorin kommen hier nicht gut zur Geltung.
Einen Eindruck der damaligen Schrecken vermittelt sie freilich dennoch,
ebenso wie die Worte des alten Araik über das Verhältnis seines Vaters
zu diesem schweren
armenischen Trauma: "Ich habe nicht gefragt, weil ich keine
Antwort wollte. Ich habe nicht gefragt, weil sein Schweigen jeden Raum
füllte, den er betrat. Vor diesem Schweigen schreckte ich zurück, es
lehrte mich Respekt - vielleicht Respekt vor seiner Zeit der Stille."
(S131)
Schließlich, nicht zuletzt angeregt durch die in bearbeitetem Familienevangeliar angegebenen Ortsnamen, begibt sich Helen in das Land, wo sich seinerzeit Massenmord und Vertreibung ereignet haben, auf die andere Seite der Grenze in die Türkei (wozu sie, was einiges über das kühle Verhältnis der beiden Länder aussagt, dreier Flüge, Jerewan-Tiflis-Istanbul-Ordu und von dort einer längeren Busfahrt nach Kars bedarf). Diesmal befindet sich Helen in Begleitung eines türkischen Freundes aus Istanbuler Tagen, des Altfilologen Tarik, der keine drei Sätze sagen kann ohne Homer oder Ovid oder, wenn es sein muss, auch einen jungen Wilden wie Schiller zu zitieren, der auch die romantitelgebende, in alter Zeit zur Kennzeichnung unbekannter Erdteile verwendete Formel "Hic sunt leones - Hier sind Löwen" in den Mund nimmt. Dass es sich bei den regionalen Löwen um Kurden handelt, wird ihm zweifellos bewusst gewesen sein, als er allerdings im Auto des Chauffeurs, der sie weiter zur armenischen Grenze bringen soll, ein Gewehr liegen sieht, beschließt er, lieber nicht mitzukommen, Helene fährt alleine zu neuen Bildern, interessanten Geschichten (bei deren Auswahl sich die Autorin mit Erfolg um politisch korrekte Ausgewogenheit bemüht hat) und nackten Tatsachen: "In meinem Dorf lebten früher nur Armenier", sagte er nach einer Pause. "Und jetzt?" "Jetzt leben wir dort." (S. 246)
Vieles mehr an teils ungewöhnlichen, aber nicht willkürlichen Informationen und Eindrücken erfährt man nebenbei über Armenien, über die Tradition der Familienbibel und den teils magischen Umgang mit ihr (indem Kranken eine solche unter den Kopfpolster gelegt wird oder der Staatspräsident vor wichtigen Entscheidungen durch Berührung Kraft aus einer Handschrift aus dem siebenten Jahrhundert schöpft), die Kompensation des fehlenden Meerzugangs durch den vielleicht köstlichsten Cognac der Welt, die Neigung guter Fachleute, mangels ausreichender Wertschätzung bei sich bietender Gelegenheit das Land zu verlassen, um reich geworden vielleicht Geld in die Heimat zu schicken, selbst jedoch keineswegs zurückzukehren, über die armenische Bindetechnik, das Rot der Purpurschnecke und der Koschenille-Laus et cetera, all dies durch die Augen einer idiorhythmischen Heldin betrachtet und zusammengefasst von der Autorin zu einer geschmackvollen Skizze des kleinen Kaukasuslandes und des Armeniertums.
(fritz; 06/2019)
Katerina Poladjan: "Hier sind Löwen"
S. Fischer, 2019. 288 Seiten.
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Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt "In einer Nacht, woanders" folgte "Vielleicht Marseille", und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht "Hinter Sibirien". Sie war für den "Alfred-Döblin-Preis" nominiert wie auch für den "European Prize of Literature" und nahm 2015 bei den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt teil. Für "Hier sind Löwen" erhielt sie Stipendien des "Deutschen Literaturfonds", des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.