Amélie Nothomb: "Klopf an dein Herz"
Über die Wunden, die eine
Mutter ihren Töchtern zufügen kann
"Klopf an dein Herz" heißt der neue Roman von Amélie Nothomb, der wieder
einmal ein blendendes Beispiel für die Erzählkunst der französischen
Autorin ist.
Aus auktorialer Erzählperspektive erfährt man zuerst von Marie, die
nicht nur mit ihrem Namen zufrieden ist, sondern auch so hübsch ist,
dass sie in ihrer Stadt für Aufsehen sorgt. "In Paris hätte niemand
Notiz von ihr genommen, aber die Stadt, in der sie lebte, war weit
genug entfernt, um nicht zur Banlieue gerechnet zu werden. Sie hatte
immer schon da gelebt, alle kannten sie." (S. 5)
Marie versäumt kein Fest, genießt es, immer im Mittelpunkt zu stehen,
und freut sich über die Neidgefühle, die sie bei Anderen, zum Beispiel
ihrer Schwester, die einen braven und unspektakulären Jungen heiratet,
auslöst. Ihr Ziel im Leben ist nicht einfach nur ein schönes Leben zu
haben, sondern das schönste Leben. "Einzig Marie war etwas
bestimmt, und ihre höchstes Glück lag im Ausschluss der anderen."
(S. 7)
Sie erwartet sich ein fantastisches Leben. Jeder Tag verspricht ihr neue
Überraschungen, sie fühlt sich ihren Schulfreundinnen überlegen und
achtet darauf, keinen der hübschen Jünglinge zu bevorzugen, im
Gegenteil, "sie sollten erbleichen vor Angst, von ihr nicht erwählt
zu werden." (S. 7)
Zu ihrer Freude verliebt sich der hübscheste Junge, der auch noch der
Sohn des Apothekers ist, in sie. Er ist die beste Partie der Stadt, und
alles scheint auf dem besten Weg zu sein. Sie wird von allen beneidet,
was ihre Stimmung ins Unermessliche steigert. Doch dann passiert
ungeplant und viel zu früh das Unglück. Sie wird schwanger, und Olivier,
der sie blind liebt, macht ihr den Heiratsantrag, und eine Hochzeit wird
so rasch geplant, dass das Fest nur in kleinem Rahmen stattfindet und
Marie im Hochzeitskleid ihrer Mutter heiraten muss. Was der
Hochzeitsgesellschaft gefällt, missfällt Marie. Sie findet bei keiner
der anwesenden Personen Neid. "Sie hätte sich ein rauschendes Fest
gewünscht mit massenhaft Gaffern, missgünstigen Lästermäulchen und
eifersüchtigen Mauerblümchen, die mürrisch auf ihre Robe schielten."
(S. 11)
Während der Schwangerschaft nutzt sie ihren liebenden Ehemann
manipulativ aus, und als dann die kleine Diane zur Welt kommt, kann sie
keine Freude für ihre Tochter empfinden. Sie ist es, die ihr das Leben
verpatzt hat. Besudelt und frühzeitig beendet. Die Pointe ihres so genau
geplanten Drehbuch des Lebens vorzeitig zu einem Rohrkrepierer gemacht
hat. Einzig und allein durch ihre Präsenz. Die kluge Diane wächst ohne
mütterliche Liebe heran. Nur ihre Großeltern und ihr Vater sind ihr
Stützen. Als einige Jahre später ihr Bruder zur Welt kommt, bemerkt
Diane, dass ihre Mutter ganz normal mit ihm umgeht und versteht, dass
ihre Mutter auf sie als weibliche Person, als Frau, eifersüchtig ist.
Auf das Leben, das sie vor sich hat, auf ihre Schönheit und die Liebe,
die ihr ihr Vater entgegenbringt. Als Célia zur Welt kommt, ändert sich
alles erneut. Célia wird von ihrer Mutter übertrieben geliebt, so sehr,
dass die kleine Célia bald unter der Last dieser übertriebenen und
völlig ungesunden Aufmerksamkeit leidet.
Mit elf lässt sich Diane von einem Lastwagen niederfahren, überlebt
aber. Der Arzt, der sie heilt, ist für sie die Inspiration, selbst
Ärztin zu werden. Ebenso wie ein Zitat des französischen Dichters Alfred
de Musset: "Klopf an dein Herz, denn da sitzt dein Genie."
Wenig später schiebt ihre Mutter sie zu ihren Großeltern ab, die für sie
sorgen. Dort kann sie sich auf ihre schulischen Leistungen
konzentrieren. Ihre Jugend besteht einzig darin, alles dafür zu tun,
später ihren Traum als Kardiologin wahrzumachen. Selbst nach dem
tragischen Tod ihrer Großeltern zeigen ihre Eltern kaum Interesse daran,
Diane zu sich zu holen. Diane wird von den Eltern ihrer besten Freundin
Élisabeth mit dem Einverständnis ihrer eigenen Eltern
adoptiert.
Amélie Nothomb zeichnet ein bestechendes Bild von zwei toxischen
Mutter-Tochter-Beziehungen, einer, die de facto nicht existiert, und
einer, die so übertrieben ist, dass der Schaden, den Célia davonträgt,
wahrscheinlich sogar noch schwerwiegender ist, als jener, den Diane mit
auf den Weg nimmt.
Diane tut sich mit menschlicher Nähe schwer, es ist entweder eine
übertriebene Besessenheit oder kühle Ablehnung, sie vergräbt sich immer
stärker in ihr Studium und in ein exzessives Verhältnis mit einer
Professorin, das vielleicht erotische Hintergedanken hat, oder auch
nicht. Ihre Schwester Célia wird frühzeitig schwanger
und verschwindet aus dem Leben ihrer Eltern, hinterlässt ihnen aber ihr
Kind.
"Élisabeth hatte eine ernsthaftere Affäre mit einem gewissen Hugues
und vernachlässigte Diane, die ihrerseits aus Enttäuschung und Trotz
eine Beziehung mit einem gewissen Hubert einging, ohne in ihn verliebt
zu sein. Hubert war hingerissen von der schönen, aber distanzierten
und rätselhaften jungen Frau. Wenn sie miteinander schliefen, war sie
wie abwesend. Das tat ihm weh, stachelte seine Gefühle für sie aber
nur noch mehr an." (S. 79)
Nothomb erzählt glasklar und konzentriert. Hier scheint kein Platz für
überflüssige Worte zu sein, alles, was sie sagt, ist Teil des Ganzen.
Jeder Satz steht nicht nur für sich, sondern beinhaltet alle
Hintergründe, zeigt Nebenwirkungen und mögliche Schlussfolgerungen auf.
Das ist, soviel sei gesagt, extrem virtuos. In diesem schmalen Roman,
auch die Seiten sind nicht besonders dicht bedruckt, ist so viel
Information und Handlung versteckt, dass man es eigentlich kaum glauben
kann. Und dennoch ist Nothomb so rhythmisch präzise, dass man keine
Sekunde lang das Gefühl von Eile hat. Im Gegenteil, es scheint fast so,
als hätte Nothomb nur die Essenz aus dieser Geschichte destilliert.
Daraus ergibt sich ein literarisch und psychologisch ganz feines Werk,
das zusätzlich wahrlich fein übersetzt vorliegt, das man eigentlich
gleich ein zweites und drittes Mal lesen möchte, einmal um zu sehen, was
man übersehen hat und einmal, um zu verstehen, wie sie das macht.
(Roland Freisitzer; 09/2019)
Amélie
Nothomb: "Klopf an dein Herz"
(Originaltitel "Frappe-toi le coeur ")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes, 2019. 151 Seiten.
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