Pavlos Matessis: "Die Tochter der Hündin"
Dramma giocoso auf dem
Peloponnes. Ein bedeutender Roman der neueren griechischen Literatur
Der am 12. Jänner 1933 in einem Peloponneser Dorf geborene und am 20.
Jänner 2013 in Athen verstorbene Pavlos Matessis war ein Großer der
neueren griechischen Literatur, bekannt, geschätzt und prämiert zunächst
für seine Theaterarbeiten (mit dem Stück
“Η τελετή”
- "Die Feier" - erschien er 1967 erstmals und gleich mit
durchbrechendem Erfolg auf der Bühne der griechischen Literatur),
weiters durch seine Übersetzungen aus dem Französischen (z.B.
Stendhal),
Englischen (z.B. Faulkner)
und Altgriechischen (fast alles Erhaltene von
Aristofanes)
und schließlich auch durch seine Prosa; seine letzte Veröffentlichung
erfolgte 2009 mit dem Roman "Graffito", worin das parlamentarische
System Griechenlands allegorisch behandelt und scharf aufs Korn genommen
wird.
Um seinen national und
international bisher mit Abstand größten Erfolg handelt es sich bei dem
1990 erschienenen Roman mit dem Titel "Die Tochter der Hündin" (im
Original eigentlich "Die Mutter des Hundes") - zugleich dem einzigen
Buch des Autors, welches bisher ins Deutsche übersetzt worden ist. Dass
es sich anno 2001 nicht sonderlich gut verkaufte, lag freilich nicht an
mangelnder Qualität, eher vielleicht daran, dass die Deutschen darin -
und das heißt nun einmal vorwiegend in der Zeit der deutschen Besatzung
Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs - ziemlich schlecht
wegkommen.
Man darf stark annehmen, dass Pavlos Matessis als annähernd zehnjähriger
Knabe Zeuge solcher oder zumindest so ähnlicher wie der beschriebenen
Vorfälle geworden ist.
In "Die Tochter der Hündin" ist es allerdings kein heranwachsender Knabe, sondern die Protagonistin des Romans, Raraú heißt die Gute mit ihrem Künstlernamen (Rubíni mit dem Taufnamen), die in erster Person, schwungvoll, doch mit Stimmungsschwankungen, nicht unkokett, assoziativ schwatzhaft sich verbreitend und dabei von Zeit zu Zeit jemanden direkt ansprechend von diversen öffentlichen und privaten Begebenheiten während der Besatzungszeit erzählt, in einem noch größeren zeitlichen Abstand als der Schriftsteller beim Verfassen des Romans, bereits die Sechzig überschritten habend - zu viele schmerzhafte Erinnerungen, seelische Wunden und ein gewaltiges, im Originaltitel wie in dem der Übersetzung zum Ausdruck kommendes Trauma sind für Raraú damit verbunden. Ein Trauma übrigens, wofür die Deutschen nicht und die andere Besatzungsmacht, die Italiener, nur sehr indirekt verantwortlich gemacht werden können, welches sich erst nach der "sogenannten Befreiung", wie Raraú den Sieg der Alliierten provokanterweise nennt, zugetragen hat.
Tatsächlich werden in "Die Tochter der Hündin" Bedrückung, Gewalt,
Opfertum und Tragik durch ebensoviele komische, burleske, ja
klamaukhafte Elemente hervorragend in einer feinen, anregenden Balance
gehalten. Psychologisch gesehen ergibt sich daraus ein stimmiges Abbild
des (bisherigen) Lebens von Raraú, ihrer besonders freud- und leidvollen
Lebenserfahrungen, ihrer mehr oder weniger starken Prägungen; und mag
der Autor noch so sehr beteuern, es handle sich bei ihr um ein Opfer,
keine Heldin, so bekommt sie von ihm dennoch ihre heldischen und
hauptdarstellerischen Momente.
Als ein Beispiel für die Durchdringung und Gleichzeitigkeit von Komödie
und Melodrama, wie sie in dem Roman systematisch angelegt ist, und für
das Aufzeigen des Potenzials zu beidem gleichermaßen, sei eine der
allerersten Szenen angeführt, die einzige Gelegenheit, bei der sich
Raraú erinnnern kann, ihren Vater von vorne gesehen zu haben: als dieser
nämlich in den Zug steigt, der ihn und seine Kameraden in den
Albanienkrieg führen soll, seine Ehefrau und Raraús Mutter Assimína ihm
ein Zwanzigdrachmenstück (die letzte Münze im Besitz der armen Familie)
auf den Weg mitgeben will, jener es aber keineswegs annehmen, sodass das
Münzstück mehrmals, zum steigenden Gaudium der Beobachter, ins offene
Zugfenster und wieder zurückgeworfen wird.
Ohne den Ernährer, der bald
keine Karten von der Front mehr schickt, wird es schwierig für die
Familie (neben Assimína, der Mutter, und Rubíni alias Raraú gibt es noch
die beiden Buben Sotíris und Fánis) - als dann bald darauf die
deutsch-italienische Besatzung anhebt und die Leute keine Wäscherin oder
Schneiderin mehr beschäftigen, kommt es für sie zu einer schlimmen
Hungersnot. Diese mündet schließlich nach berührenden (Raraú lässt ein
ihr geschenktes mageres Hühnchen lieber verhungern, als es zu
schlachten), komischen (ein nach Filmaufnahmen von delikaten Speisen
gierendes Kinopublikum) und realistischen Szenen (die Kinder bewegen
sich sehr sparsam, gehen fleißig Wildkräuter sammeln, verschmähen indes
auch Rosentriebe nicht) in die blanke Unerträglichkeit, aus welcher die
Mutter schließlich nur den einen Ausweg sieht und einschlägt, sich
zweimal die Woche einem italienischen Besatzungssoldaten hinzugeben und
im Gegenzug hinreichend Nahrungsmittel von ihm zu erhalten.
Die Art, wie "die Kollaborateurin" bzw. "die Hure" nach Abzug der
Besatzer von der Stadt bestraft wird, führt bei Tochter und Mutter zu
einem schweren Trauma und bildet solcherart die erst nach der Hälfte zu
lesende Schlüsselstelle dieses an heftigen, archaische Gefühle und
Empfindungen freilegenden Szenen nicht gerade armen Romans.
Erwähnter Stadt
(Provinzhauptstadt, wie die stets auf gute Wirkung bedachte Raraú
vermerkt, Epalxis wird sie in dem Buch genannt und ist vermutlich zu
weiten Teilen an das westpeloponnesische Pyrgos, in dem Matessis einen
Teil seiner Kindheit verbrachte, angelehnt) und ihren Einwohnern wird
anhand vieler kürzerer Geschichten recht ausführliche Beschreibung
zuteil, alles in der Rückschau der sich manchmal selbst widersprechenden
und nicht immer ganz zurechnungsfähig wirkenden sechzigjährigen Raraú,
die in Athen ihre beiden Pensionen (eine nach einem Berufsleben als
Komparsin, die andere als Waise eines in Albanien gefallenen Helden)
genießt, auf die schlimmen Zeiten und ihr naives früheres Selbst (jetzt
hingegen ...) zurückblickt und sichtlich darum bemüht ist, sich -
dramatische Künstlerin und seit ewigen Zeiten Hauptstädterin - als
Siegerin des Lebens zu fühlen.
Für die Rahmenhandlung der Erzählsituation drängt sich gegen Ende hin
die Lesart auf, Raraú würde das alles in mehreren Monologen ihrem
Psychotherapeuten gegenüber berichten bzw. beichten, mit Sicherheit ist
bei der Heldin eine klassische Verdrängung verstörender seelischer
Inhalte mit vom Autor zart angedeuteten Abwehrmechanismen festzustellen.
Bei der Rezeption des Buches in Griechenland wurden besonders die sonst
eher verdrängten historischen Aspekte wahrgenommen - die Umstände und
Leiden der Besatzungszeit insbesondere der Frauen und Kinder, die
Perspektive der Schwachen, das unbewusste Opfersein (oder halbbewusste,
und auch den folgenden Bürgerkrieg verdauen müssende), Anekdoten von
"Heldentoden" oder "glimpflich" davongekommenen Kollaborateuren - und
haben dabei einige kathartische Wirkung ausgelöst.
Dreimal muss der Autor in den allzu abweichlerischen Sermon Raraús
eingreifen bzw. dem Leser da zu Hilfe kommen, wo sie nicht hinsehen will
oder ihr einfach die Kraft dazu fehlt: einmal mit dem Augenzeugenbericht
einer Prostituierten, ein andermal mit einem psychiatrischen Attest; im
längsten Zwischenstück springt ein Erzähler ein und schildert die beiden
Nachkriegsjahre Raraús und Assimínas, die sie in einem Vorort Athens und
in Gesellschaft eines Krüppels (a propos: er weise, so Pavlos Matessis
über sich selbst, zwei Verkrüppelungen auf: jene, nicht bewundern und
jene, nicht beneiden zu können) verbringen mussten.
Zurück zu Raraú, die mit kleineren Abweichungen in chronologischer
Reihenfolge von ihrer Kindheitsstadt erzählt, vom im Schatten einer
Kirche stehenden winzigen Elternhäuschen mit Lehmboden, den man nahezu
wöchentlich jäten musste, vom benachbarten Popen, Vater Dínos, dessen
pünktliches Pinkeln neben dem Gotteshaus ihnen als Uhr diente, und bei
dem man, wenn man etwas in Umlauf bringen wollte, nur zur Beichte zu
gehen brauchte, vom vornehmsten der drei Stadtbordelle (nach dem Krieg
mit Geldern des Marshallplans renoviert), wohin Raraú einmal einer
Nobelprostituierten ein Präsent bringen musste, um sich nach dem
freundlichen Empfang wie gesellschaftlich aufgestiegen vorzukommen,
diversen Sitten und Gebräuchen der Stadt wie beispielsweise, dass erst
geheiratet zu werden hatte, um sich dann Liebhaber nehmen zu können, der
Tanzschule, die Mädchen, um ihren guten Ruf nicht zu verlieren, mieden,
wo die miteinander tanzenden Burschen abwechselnd die Dame gaben, damit
sich bei keinem von ihnen die Männlichkeit verringerte, der beliebten
Stadtpromenade, wo Damen mit ihren aus der Not geborenen hochabsätzigen
Holzpantinen häufig überknöchelten und, kam noch der Hunger
hinzu, bisweilen in Ohnmacht fielen, und von vielem mehr.
Besonders gewürdigt, nicht
zuletzt als wesentliche Handlungsträger (zumal Mutter, Tochter und der
kleine Fánis sich eher passiv verhalten, und Sotíris, nachdem der
Liebhaber zum ersten Mal seinen Fuß auf den Lehmboden gesetzt hat, ganz
verschwindet) werden jene Personen, die der Familie am nächsten stehen
und auch anlässlich der italienischen Affäre nicht den Stab über sie
brechen werden: Frau Faní, die ewig an etwas häkelnd bald nach dem Krieg
ihre Nachbarin in einem erst entstehenden Athener Viertel sein wird,
Herr Manólaros, erst Hausarzt, später als Parlamentarier ebenfalls nach
Athen übersiedelnd, mit der Angewohnheit, jedem Patienten zunächst
einmal eine Spritze in den Hintern zu verabreichen (kam das Serum gratis
vom Roten Kreuz, angeblich auch als Namenstagsgeschenk), und statt das
Geld der Armen deren Wählerstimmen zu nehmen, die imposante Frau
Kanéllo, "groß wie ein Mann, wo sie ging, bebte die Erde"
(nicht nur auf einer Seite), Mutter von etlichen Kindern, im Widerstand
aktiv und praktischerweise als Telegrafistin auf dem Telegrafenamt
arbeitend, schließlich die Familie Tiritómba, bestehend aus Adriána, der
Witwe des Direktors (schon wieder der Albanienkrieg), Salome, ihrer
jüngeren Schwester, Tássis, ihrem jüngeren Bruder, und Marína, ihrer
blutjungen Tochter, bei einem Besuch im Elternhaus vom Krieg überraschte
Wanderschauspieler mit den teuersten Bühnendekors und Kostümen aller
herumziehenden Komödiantentruppen, die der Selige nämlich von einem
pleitegegangenen sizilianischen Opernensemble günstig hat erstehen
können.
Die Tiritómbas helfen Kanéllo beim Handgranatenschmuggel für die
Partisanen (oftmals begleitet von den unschuldigen Kindern Rubíni und
Fánis), sind allerorts für theatralische Einlagen gut mit den besonderen
Stärken Improvisation und Adaptierung (wenn ein Säugling nach stetiger
Zuwendung verlangt, kann ein Stück plötzlich "Tosca, eine Mutter im
Kugelhagel" heißen), und entdecken auch das Talent der künftigen Raraú,
die in dem Stück "Die Tochter der Waise" ihre Premiere feiert
(unglücklicherweise zwei Tage vor dem berühmt-berüchtigten "Nein" des
Generals Metaxas vom 28.10.1940, welches ihre Karriere unbarmherzig
aufschieben wird): "Meine Rolle dauerte zwei Minuten, ich hatte
dabei auch keinen Text, ich spielte ein kleines Mädchen, dessen
verwaiste Mutter es schlug und ihrer unehelichen Schwiegermutter in
die Arme warf, die es ihr wieder zurückwarf, kurz gesagt machten sie
mich zum Schleuderball bis zum Schlussvorhang. (...) Trotz allem
schrie oder weinte ich nicht, denn von da an war ich in den Ruhm
verliebt. Und bekam Geld, drei Drachmen für die Premiere, das war mehr
ein Köder, damit ich nicht beleidigt war und sie am zweiten Abend im
Stich ließ. Ich spielte natürlich auch am zweiten Abend, das waren
noch einmal drei Drachmen, die brachte ich meiner Mutter, und so fand
ich Zugang zur Welt des Theaters."
(S. 108)
Hier grüßt kurz das absurde
Theater, welches dem jungen Matessis einst eine neue Welt erschloss, und
überhaupt bleibt die Bühnenkunst für den Autor in der Prosa, worin er
sich als "blinder Passagier" bezeichnete, das maßgebliche Fundament.
Auch in "Die Tochter der Hündin" finden sich diverse Bestandteile: das
hohe kathartische Potenzial, die Theaterverrücktheit der beiden
"professionellen" Schauspielerinnen Raraú und Salome nebst Utensilien,
etliche weitere Romanfiguren, die zu glauben scheinen, dass die Welt nur
da sei, damit ihre eigenen Leidenschaften zu Büchern werden können,
dadurch sowie durch den Kriegszustand eine starke Dramatik vieler der
Einzelszenen, aus denen sich weitgehend die Handlung zusammensetzt,
unterlegt mit wuchtigen surrealistischen Bildern und Symbolen. Es finden
sich Überforderung, Verdrängung und begonnene Aufarbeitung der
Protagonistin ebenso darin wie der vollkommene Zusammenfall von Schmerz
und Ausdruck bei der Mutter eines erschossenen Partisanen, die der Stadt
zwei Tage und zwei von einer Acetylenlampe und ein paar Kerzen erhellte
Nächte lang ihr Unglück zur Schau stellt, sich gegen die Wand wirft und
dergleichen, und, nachdem Vater Dínos, ebenfalls nicht ohne rituelles
Pathos, ihr den Leichnam weggenommen und begraben hat, bei jedem Besuch
des Grabes eine kleine Handvoll Erde isst.
Mit einer Vision von Erde endet der Roman.
Von "Die Tochter der Hündin" liegen außerdem zwei Bühnenbearbeitungen
vor, eine von Matessis selbst, die andere von Pavel Kohout mit dem
tschechischen Titel "Psí matka".
Der Inbegriff des Dramatikers war für Pavlos Matessis übrigens
W.
A. Mozart, den er als den "Parthenon der europäischen Kultur"
bezeichnete und dessen "Le nozze di Figaro" er so oft hörte, bis er jede
musikalische Nuance darin wahrnahm.
(fritz; 07/2019)
Pavlos Matessis: "Die Tochter der
Hündin"
(Originaltitel "Η
Μητέρα του σκύλου")
Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand.
Hanser, 2001. 271 Seiten.
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