Angela Lehner: "Vater unser"
Die
Zehn Gebote sind zum Brechen da ...
2019 scheint das Jahr der wirklich großartigen
Debüts junger österreichischer Autorinnen zu sein.
Nach Barbara Zemans (geboren 1981) "Immerjahn"
nun Angela Lehners (geboren 1987) "Vater unser".
Angela Lehners Debüt, obschon es gar keine heitere oder gar
spaßige Handlung aufweist, ist rotzfrech, bitterböse
und unterhaltend, sodass man sich beim gierigen Weiterblättern
fast schämt. So, als würde man gierig danach
trachten, noch mehr vom hier präsentierten Unheil zu sehen.
Eva Gruber, die Protagonistin und Ich-Erzählerin dieses
Romans, ist eine Figur, die man nicht so schnell vergessen wird. Gleich
zu Beginn wird sie von der Polizei in die psychiatrische Abteilung des
Otto Wagner Spitals (bzw. nach
Steinhof) eingeliefert. Warum ist
unklar, zumindest zu Beginn. Dann stellt sich heraus, dass sie eine
ganze Schulklasse erschossen hat. Oder doch nicht? Sehr schnell merkt
man, dass alles, was Eva sieht, tut, denkt, nie die ganze Wahrheit ist.
Wo verlaufen die Grenzen zwischen Wahn und Realität? Welche
Geschehnisse sind manipulative Lügen, was ist eingebildeter
Wahn? Was stimmt hier eigentlich überhaupt? Diese Unsicherheit
hält Angela Lehner virtuos und konsequent durch, sie
lässt Eva so überzeugend glaubwürdig
lügen, dass man als Leser immer wieder auf dem Glatteis
ausrutscht.
Während man noch fest daran glaubt, dass ihr Vater Selbstmord
verübt hat, ihre Mutter tot ist und Eva alleine den Bruder
Bernhard aufgezogen hat, taucht dann dennoch die Mutter
überraschend und höchst lebendig im Otto Wagner
Spital auf, wohin übrigens auch Bernhard eingewiesen wurde.
Warum die beiden hier sind, und warum Eva von der Polizei hierher
verfrachtet worden ist, wird nie klar. Und das ist auch gut so, weil es
dem Leser offen lässt, seine Schlüsse zu ziehen.
"In der Ecke ein kleiner Fernseher mit einem Gestell an die
Decke geschraubt. Daneben eine Kamera. Am Anfang wird man mich filmen
nachts. Ich weiß Bescheid, ich musste unterschreiben. Ich
trete ans Fenster und gebe mir nicht die Blöße,
daran zu rütteln. Der Ausblick ist schön. Auf andere
Pavillons, auf Wiesen, auf Wien. Ein schöner Ort, denke ich.
Ohne zu klopfen, kommt eine Schwester herein und gibt mir ein
Wäschebündel. Sie erklärt mir in
Wir-Sätzen die kommenden Tage. Ich nicke. Als sie geht, bitte
ich sie, zukünftig anzuklopfen."
Eva hat Therapiesitzungen mit dem Psychiater Korb, der eine ziemlich
bemitleidenswerte Figur abgibt. Aus diesen Therapiesitzungen geht
zumindest hervor, dass Eva ihrer Mutter Totalversagen als Mutter
vorwirft. Ebenso wird klar, dass Eva die Kontrolle über ihren
Bruder erlangen will. Mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung
stehen und um die sie kämpft. Der Bruder scheint eine
psychosomatische Essstörung zu haben, er kann kaum essen, und
wenn doch, dann kann er es nicht bei sich behalten. Es stellt sich
heraus, dass der Vater doch noch lebt, er hat eine neue Familie, Frau
und Kinder, und will nichts von seiner ehemaligen Familie wissen. Eva
sieht die Probleme Bernhards im Vater verankert, meint, dass Bernhard
nur dann aus seinem Strudel herauskönne, wäre der
Vater wirklich tot. Und wenn er schon nicht von selbst stirbt, dann
müsste da halt nachgeholfen werden. Sie sieht sich in der
Verantwortung, ihm zu helfen, egal mit welchen Mitteln.
"'Schau Bernhard', sag ich. Ich stelle fest, dass ein kleines
rosa Leberkäspartikelchen den Sprung von meinem Mund auf
seinen Unterarm geschafft hat, und bemühe mich um einen
besorgten Tonfall: 'Ein magersüchtiger Mann über
dreißig. Das kann nix. Der ist dann nicht mehr dramatisch
schön, sondern eher verlebt.' Ich überlege: 'Das ist
höchstens ein Junkie'."
Im Raum stehen Missbrauchsvorwürfe, Misshandlungen und
Missachtung sowie eine Reihe anderer Dinge, die im frühen
Stadium des Erwachsenwerdens zu psychologischen Störungen
führen bzw. die diese wahrscheinlich im Keim vorhandenen
Störungen derart potenzieren können, dass selbst gut
geschulte Psychiater mehr oder weniger hilflos sind. Während
die drei Teile des Romans "Vater unser", "Der Sohn" und "Der heilige
Geist" betitelt sind, ist ein katholischer Kontext eigentlich nicht zu
finden. Es ist fast eher so, als würde Eva die Zehn Gebote nur
kennen, um sie zu brechen. Lügen, kein Problem.
Töten, na ja, wenn es einen guten Grund gibt. Weil, wenn der
Vater nicht mehr lebt, dann müsste es dem Bruder wieder besser
gehen. Dennoch ergeben die Titel der einzelnen Teile letztendlich Sinn,
genauso wie sich aus am Anfang diffusen Erzähl- und
Ideensträngen am Ende ein kohärentes Ganzes ergibt.
Auch wenn man dann noch immer keine Antwort auf alle Fragen hat. Trotz
einiger gut platzierter Rückblenden ins Familienleben vor der
Trennung der Eltern bleibt auch schleierhaft, ob überhaupt
etwas, und wenn ja, was wirklich passiert ist.
"Vielleicht musste man es mit einer Leiche machen wie mit
einem Pflaster: Einfach schnell sein, wer zu langsam ins Wasser geht,
friert. Mit einem Ruck wandte ich mich um. Korb hatte sich weggedreht,
ich sah nur seine Schultern, die Wange, den nach vorne gekippten Kopf
mit dem vollen grauen Haar. Und trotzdem gab es keinen Zweifel daran:
Tot. Bevor die Tür vor mir zufiel, erhaschte ich einen Blick
auf den Altar. Auf einem handbestickten Tuch lag ein Rosenkranz
neben
einem gerahmten Porträtfoto von Jörg Haider.
Darüber hing ein kleiner Jesus auf einem Kreuz herum. Ich
klappe den Toilettensitz herunter und setze mich darauf. Als Kind
beruhigt mich die Mutter. Mittlerweile bin ich erwachsen."
Irgendwie schafft es Eva, ein Auto zu "leihen", sie schnappt sich
Bernhard und unternimmt zuerst einen Ausflug in den Zoo. Sie bearbeitet
Bernhard dahingehend, dass er letztendlich bereit ist, mit ihr nach
Kärnten zu fahren und dort, gemeinsam, den Vater zu
töten. An dieser Stelle möchte der Rezensent
anmerken, dass der Roman dann noch einmal zusätzlich Fahrt
aufnimmt und quasi erst richtig losgeht.
Angela Lehners Roman "Vater unser" ist wahrlich gelungen, nicht nur,
weil es schon lange keine so genialische Ich-Erzählerin wie
Eva Gruber mehr gegeben hat, die, egal, wie meschugge sie in Wahrheit
ist, egal, wie empathielos sie im einen, hysterisch mitfühlend
im anderen Moment ist, wie daneben einige ihre Ideen sind, so
rotzfrech, gestört und gleichzeitig aber wieder so klug und
intelligent ist, einfach schwer zu überbieten ist. Es ist
wirklich beeindruckend, was Angela Lehner mit diesem Roman gelungen
ist, richtiggehend spektakulär ist das. Die Vorfreude auf
weitere Prosaveröffentlichungen der Autorin ist, zumindest
beim Rezensenten, riesengroß.
(Roland Freisitzer; 03/2019)
Angela
Lehner: "Vater unser"
Hanser Berlin, 2019. 284 Seiten.
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Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, lebt in Berlin. Für ihr Schreiben hat sie mehrere Literaturpreise und Literaturstipendien erhalten.