Olaf Kühl: "Letztes Spiel Berlin"


Ein spannender Agentenroman aus Berlin

Olaf Kühl, der dem deutschsprachigen Leser wahrscheinlich in erster Linie als großartiger Übersetzer aus dem Polnischen, Szczepan Twardoch und Andrzej Stasiuk beispielweise, bekannt ist, hat nach "Tote Tiere" und "Der wahre Sohn" einen weiteren Roman vorgelegt.

"Letztes Spiel Berlin" ist ein Roman, der zwar mit Elementen des Genres Thriller arbeitet, diese aber konsequent dehnt und das, was man gemeinhin in diesem Genre erwarten würde, auf spannende Art und Weise sprengt. Ein leicht lesbares Buch ist dieser Roman jedenfalls nicht, schon allein deshalb, weil Kühl es offensichtlich nicht darauf angelegt hat, einen geradlinigen Thriller zu schreiben.
"Niemand wusste genau, woher der Gesichtslose seinen Spitznamen hatte. Der Grund jedoch ist offensichtlich: der schreckliche Brandunfall vor vielen Jahren, von dem Kollegen sagten, er habe sein ganzes Leben verändert. Die Flammen hatten die Gesichtshaut geschädigt. Die Augen waren unversehrt geblieben, doch betrug die Sehkraft seines rechten Auges ohnehin nur noch einen Bruchteil der früheren Stärke. Sein Kopfhaar soll nur noch eine Matte von kleinen, verklumpten Kügelchen gewesen sein. Verbrennungen dritten Grades vernarben wulstig. Sie sollen am meisten zu der Verunstaltung beigetragen haben. An den weniger betroffenen Flächen löste sich, wie es hieß, lappenweise die Haut vom Gesicht." (S. 11)

Aus einer Vielzahl von Stimmen, die sich langsam aus der Text schälen, muss man sich als Leser in diesem Roman, der ohne Unterteilung in Kapitel oder Abschnitte auskommt, erst zurechtfinden. Immerhin kann man aufgrund der Absätze feststellen, dass die Erzählperspektive wechselt. Die Einführung der diversen Protagonisten passiert ebenfalls quasi en passant. Was anfangs sicherlich eine Eingewöhnungsphase verlangt, nach der man allerdings im sehr abwechslungsreich gestalteten Rhythmus des Autors gefangen ist. Fast scheint es so, als würde sich der Autor der Leser entledigen wollen, die auf der Suche nach einem (ent)spannenden Berliner Agententhriller den Weg zu "Letztes Spiel Berlin" gefunden haben.

Zu Beginn lernt man Pawel kennen. Er hadert mit seiner Herkunft sowie Nietzsche und macht sich, nachdem sein bester Freund Konrad Mauser verschwunden ist, auf die Suche nach ihm. Pawel ist mit einer deutschen Frau verheiratet, ihr aber nicht treu. Gleich nach wenigen Seiten begleitet man Pawel bei einem Seitensprung mit Evîn. Olaf Kühl ist nicht bemüht, seine Figuren zu beschönigen, er zeichnet sie schonungslos.

Eingestreut zwischen die verschiedenen Perspektiven sind Abschriften von Abhör- und Beschattungsprotokollen. Diese Protokolle enthüllen allerdings eher die privaten Schattenseiten Pawels als irgendeine Beteiligung an geheimdienstlichen Aktionen. Eine Tatsache, welche die "CIA" noch stutziger macht und bald zu Zerwürfnissen innerhalb der Agentur führt.
"Wenn ich es nicht längst an ihrer Stimme erkannt hätte, war mir spätestens jetzt klargeworden, dass sie nicht aus meinem Land kommen konnte. Polinnen gucken anders. Sie flirten schon, wenn sie dich zum ersten Mal ansehen. Ihr scheinbar so züchtiger Silberblick ist in Wirklichkeit ein großes Männerfangnetz. Dieses Mädchen hier war anders. Sie war offen. Geradeheraus ... so wie ... wie die Berliner Mädchen in der Landsberger Allee, in der Schwimmhalle, von deren Fenstern aus man auf die S-Bahn schauen kann."(S. 89/90)

Konrad Mauser ist Reiseleiter und wird eher zufällig in diesen Strudel von lebensverändernden Ereignissen hineingezogen. Die "CIA" vermutet in ihm den Mörder eines russischen Überläufers. Da er plötzlich verschwunden ist, macht sich Pawel auf die Suche nach ihm. Bald begegnet er der siebzehnjährigen Jana, die in ihm einen romantischen Helden sieht.

Als der Mord am Überläufer als natürlicher Tod gewertet wird, vermutet der "CIA"-Agent Cowley, dass ein politisches Attentat schamlos vertuscht werden soll. Nur warum? Was ist wirklich passiert? Cowley ermittelt auf eigene Faust weiter und gerät so selbst in Gefahr, wie eigentlich alle Beteiligten dieses immer spannender werdenden Romans, dessen Handlungsstränge sich bald in Verästelungen von Vertuschung und politischen Intrigen verlaufen. Das Einzige, was sich wirklich herauszukristallisieren scheint, ist die Tatsache, dass bald niemand mehr weiß, wem er oder sie vertrauen kann. Das erlaubt ein trostlos gespenstisches Bild von einer Gruppe von Menschen, die wie Marionetten in einem grotesken Machtspiel missbraucht werden. Alle werden hilflos in diesen Strudel hineingezogen, für alle zum Schlechteren, in Wahrheit allein aufgrund der Tatsache, dass sich die "CIA" zu einer Fehleinschätzung hinreißen hat lassen. Oder diese bewusst getätigt hat.

Mehr möchte der Rezensent über den Verlauf des Romans nicht verraten, weil die von Olaf Kühl gesetzten Hinweise, kleine Spuren, die er legt, den Leser nur dann fesseln, wenn er sie genau an den platzierten Stellen wahrnimmt.
"Jana zog in aller Seelenruhe ihre Waffe, entsicherte und gab zwei Schüsse ab. Eins Kopf, zwei Brust. Das zweite Geschoss durchschmetterte auf seiner Bahn ein leeres Cola-Glas auf der Theke. Das Miststück sank dahinter zusammen. Viel Leben war nicht in ihr gewesen. Vom Lärm alarmiert, stürzte der Besitzer aus dem Magazin, wo er sein Geld hortete. Ein asiatischer Dagobert Duck auf Bergen von Golddukaten. Noch viel größeres Geschrei ... Nun stand er da und starrte entsetzt auf das schiefe Häufchen Glieder, das von der Frau, seiner Frau vielleicht, übrig geblieben war." (S. 213)

Olaf Kühls Prosa ist hart, glasklar und rau. Sie ist gehörig "noir-gefärbt" und rhythmisch sehr abwechslungsreich, von staccatohaften kurzen, bis hin zu komplexen vielschichtigen Sätzen. Immer wieder meint man Anspielungen auf Klassiker des Genres durchschimmern zu sehen, was zu charmanten Allusionen führt. Olaf Kühl lässt die Politik natürlich nicht aus dem Spiel, bedient sich aber nicht seiner Figuren, um politische Botschaften zu vermitteln. Politisch inkorrekt und teilweise mit einer gehörigen Portion Machohaftigkeit versehen, ist der Roman sicherlich nicht jedermanns Sache. Alles in allem ist "Letztes Spiel Berlin" aber ein wirklich spannender, überzeugender Roman, in den man sich auf den ersten fünfzig bis sechzig Seiten richtig bewusst einarbeiten muss. Dann aber lassen einen dieser Roman und seine Protagonisten nicht mehr los, atemlos lässt man sich vom Autor gern manchmal auch im Zickzackkurs durch die mehr als dreihundert Seiten hetzen.

(Roland Freisitzer; 08/2019)


Olaf Kühl: "Letztes Spiel Berlin"
Rowohlt Berlin, 2019. 348 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen