Dževad Karahasan: "Ein Haus für die Müden"
Fünf Geschichten
Gesänge über die Liebe im Tod
Dževad Karahasan ist sicherlich einer der
ungewöhnlichsten Schriftsteller der Jetztzeit. Seine Texte haben durch die ihnen
eigene Zeitlosigkeit eine ganz besondere Aura, die dazu führt, dass sie den
Leser noch lange nach der letzten Seite beschäftigen. Dass sie diese Wirkung
erzielen, ist natürlich auch eine Glanzleistung der Übersetzerin Katharina
Wolf-Grießhaber, die die passenden Farben gefunden hat, um diese literarischen
Kleinode auch auf Deutsch leuchten zu lassen.
Interessanterweise hat man sich
bei der deutschen Übersetzung gegen den ursprünglichen Untertitel "Gesänge über
die Liebe im Tod" entschieden. Schade eigentlich, weil dieser Untertitel ein
sehr stimmiges Motto für diesen wundervollen Band darstellt.
Karahasans
Figuren scheinen die Welt nicht (mehr) zu verstehen, sie lehnen es quasi ab,
sich ihrer Zeit anzupassen. Sie blicken zurück in ihre Vergangenheit, erinnern
sich an Orte, Orte der Geborgenheit, an eine Zeit, als der Sohn noch nicht
verschwunden war und das Ehepaar noch gelebt hat. Ihre Häuser erinnern sich,
weil in ihnen die Vergangenheit ebenso gespeichert ist. Das führt dazu, dass die
Figuren und die Objekte mit einer ganzen Reihe von Rätseln umgeben sind. Rätseln
ganz anderer Natur natürlich als beispielsweise bei
Haruki
Murakami. Es sind hier keine Parallelwelten oder Metaebenen, die parallel
zum Geschehen existieren, sondern feine, psychologisch tiefgehende
Verästelungen, die das, was zwischen den Zeilen steht, erblühen lassen.
In "Samtblumen an ihrer statt" spielt Karahasan virtuos mit einer
Scheinbeziehung zwischen Eltern und Sohn. Dabei inszeniert ein Mann eine
Scheinbeerdigung seiner Eltern in ihrer Heimatstadt Duvno, die übrigens auch
jene Stadt ist, wo der Autor geboren wurde. Die Eltern sind allerdings in
Norwegen begraben. Befindet sich der Leser in der Traumwelt des Mannes oder in
seinen letzten Momenten des Bewusstseins vor dem Tod, wenn die letzten
Wasserquellen, die das Verdursten noch abwenden können, längst versiegt zu sein
scheinen? Trotz des realistischen Tonfalls der Erzählung schafft es Karahasan,
den Leser immer in der Schwebe zu lassen, er entzieht ihm das Sicherheitsnetz,
das ihm Klarheit darüber geben könnte, was hier Realität und was Schein ist.
Gibt es überhaupt so etwas wie eine Wahrheit?
In einem Interview sagte der
Autor, "dass sein ganzes Buch der Versuch ist, Geschichte als System der
Ereignisse in das menschliche Leben, als ein System der Erlebnisse zu
übersetzen. Denn wir vergessen immer wieder, dass Geschichte Sieger schreiben
und Literatur die Leute schreiben, die das Leben lieben."
In einer
Erzählung treffen plötzlich Briefe an unterschiedlichen Adressen in Sarajevo
ein. Um Jahre verspätet. Es stellt sich heraus, dass diese Verspätungen auf
einen verliebten Briefträger zurückzuführen sind, der im Ersten Weltkrieg beim
Versuch, die Drina zu überqueren, gestorben ist. Überall sind Liebe und Tod
derart verwoben, dass man bald die Trennlinien nicht mehr sieht. Wie Karahasan
vorgeht, ist eine erzähltechnische Meisterleistung. Der Briefträger, unsterblich
in Sefika verliebt, scheitert Tag für Tag an der Niederschrift eines
Liebesbriefes, in dem er Sefika seine Liebe gestehen will, so lange, bis er die
Idee hat, alle Briefe, die in schönen, verzierten oder sonstwie gestalteten
Kuverts in seine Hände gelangen, abzufangen. Diese leitet er alle an Sefika
weiter, egal ob sie auf Ungarisch, Deutsch, Polnisch, Tschechisch oder gar
Italienisch geschrieben sind. Als er stirbt, übernehmen seine Brieftauben
selbstständig die Zustellung der gehorteten Briefe ...
Eine andere
Erzählung, die wieder in Duvno angesiedelt ist, stellt Karlo in den Mittelpunkt.
Er ist Witwer und nicht mehr der Jüngste. Der einzige Sohn ist nach Amerika
ausgewandert. Karlo beschäftigt sich mit der Frage, wie er das Leben, das ihm
bleibt, in Duvno, wo ihm das Leben immer irgendwie "entrinnt", bewältigen kann.
Jeden Montag Abend verbringt er in einem Kaffeehaus, wo er seinen Freunden
lauscht, die aus ihren Leben erzählen. Sie sind teilweise weit gereist, haben
viel erlebt und erzählen im engen Kreis von den Wundern der Welt. Osman
beispielsweise hat im Irak den Vogel Roch gesehen und einen blutroten Fluss. Das
größte und schönste aller Wunder aber ist für ihn
Bagdad, wo er sich eine Uhr
gekauft hat.
Karlo selbst meint, ein Leben ohne Wunder und Geschichte erlebt
zu haben. Eine Tatsache, die seiner Frau immer gut gefallen hat, weil sie der
Meinung war, dass auf Wundern kein Segen ruhe. Der Alltag der Arbeitenden ist
das Wunder selbst, denn ihm schenke Gott hier seinen Blick, damit ihn die
Arbeitenden durchstehen. Karlo aber sieht das nicht und meint, dass er seine
Geschichte erfinden muss, wodurch er die letzte Grenze überschreitet.
Die
fünf Erzählungen sind in sich wunderbar abgeschlossene Kleinode. Bedächtig und
stilistisch einzigartig erzählte Geschichten, die so viel Weisheit und Sinn
ausstrahlen, dass man beim Lesen immer wieder überrascht ist, wie wohl diese
Lektüre tut. Überhaupt liest sich dieser Band auf äußerst wohltuende Weise wie
ein längst seinen Platz im Kanon verdient habender Klassiker. Es ist die
philosophische Grundstimmung, die sich der Weisheiten des Orients bedient und
dennoch tief in Mitteleuropa verankert ist. So wie Karahan selbst, der als
Moslem bei einem Franziskaner
Latein und Griechisch gelernt hat, der während der
Belagerung Sarajevos fliehen musste und lange in Graz gelebt hat, wo er noch
immer abwechselnd mit Sarajevo lebt, ist auch seine Literatur der Inbegriff
einer europäischen Verständigung. Einer Symbiose, die das Beste aller Einflüsse
in einer literarischen Sprache verschmelzen lässt, die ihresgleichen in der
europäischen Literatur vergeblich sucht. Stilistisch ist Karahasans Prosa
nüchtern und doch angereichert durch die Einflüsse des Orients. Sie ist von
einer getragenen Würde, die von viel Geduld zeugt, die einen langen Atem hat und
den Leser letztendlich beglückt, mitgenommen und bereichert in seine Gedanken
entlässt. Und das ist wahrlich große Literatur.
(Roland Freisitzer; 06/2019)
Dževad Karahasan: "Ein Haus für die Müden. Fünf Geschichten"
(Originaltitel "Pjesmo o ljubavi u smrti")
Aus dem Bosnischen von
Katharina Wolf-Grießhaber.
Suhrkamp, 2019. 234 Seiten.
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