Ismail Kadaré: "Geboren aus Stein"

Ein Roman und autobiografische Prosa


Unter dem deutschen Titel "Geboren aus Stein" wurden vier zwischen 1996 und 2013 entstandene bzw. in nunmehrige Form gebrachte separate Prosatexte des seit Jahrzehnten namhaftesten Schriftstellers albanischer Zunge zu einem Buch zusammengestellt. Durchaus mit einer gewissen (gleichsam synfonischen) Stimmigkeit, wird darin doch fast durchwegs von Ereignissen aus der Kindheit berichtet, alles in erster Person und dem Anschein nach weitgehend autobiografisch. Lediglich "Zeit der Liebe" und der letzte Beitrag, der einzige wirklich neue, erstmals ins Deutsche übersetzte Text Kadares, der Hundert-Seiten-Roman "Die Puppe" (in dem es, jawohl, um die Mutter des Autors geht) reichen hinein ins Erwachsenenalter. Der deutsche Gesamttitel nimmt Bezug auf den Herkunftsort des angehenden Autors, denn steinern ist die Altstadt von Kadares südalbanischem Kindheitsort Gjirokastra, steinern das riesige aus der osmanischen Zeit stammende Elternhaus, und auch kindliche Prägungen können etwas in Stein Gemeißeltes an sich haben.

"Narrendinge" präsentiert Närrisches unterschiedlichster Gestalt. Die dem Knaben unheimliche, heimtückisch erscheinende krumme Narrengasse in nächster Umgebung, die fixe Idee des kleinen I., sich in einem selbstgebauten trojanischen Pferd zu verstecken, um dann die Einwohner rechtzeitig vor den Griechen warnen zu können, seine kühnen Spekulationen über unverständliche Worte der Erwachsenen und Frauen Betreffendes, die Verrücktheit mancher, nicht mehr so recht in die Gegenwart zu passen scheinender Verhaltensweisen und Gebräuche und manches mehr.
Und - wohl Fluch und Segen für den kleinen Angehenden - die damaligen politischen Verhältnisse. Wir befinden uns in einer Zeit des radikalen Umbruchs, in der die kommunistische Partei eben aus dem Untergrund hervortritt und die Macht übernimmt. Erste öffentliche Rede des ebenfalls aus Gjirokastra stammenden, den Knaben jedoch schnell enttäuschenden Enver Hoxha: "Nichts als Lächeln, Winken, Artigkeiten, Blumensträuße, kurz gesagt, nichts als Milch und Honig. Und dann dieses ganze Gebrüll und die gellenden Parolen. Er schrie "Es lebe das Volk!", und das Volk antwortete "Es lebe die Partei!". Man wusste schließlich gar nicht mehr, wer von beiden der Lebendigere war." (S. 29)
Die kindliche Perspektive bietet dem Schriftsteller derweil so manche Gelegenheit, die diversen ideologischen und sonstigen Verirrungen auf besondere, oft recht indirekt aufzeigende Art kenntlich zu machen. Es wird zwar auch von Brutalem berichtet, in der Erzählweise jedoch stark das Komische betont, beim abrupt veränderten Unterricht etwa, wenn verzweifelte Schüler auf einmal versuchen, durch ihren Hinweis auf grobe Unterlassungen früherer Regime ihr Nichtwissen über Naturwissenschaftliches zu kaschieren, wenn angsterfüllte Lehrer von im Auftrag der Partei agierenden übereifrigen Schülern bezüglich ihrer Systemkonformität überwacht werden, wenn eine Großtante aus der Kadare-Linie vom Regime wegen ihrer Weigerung, ihr täglich Brot bei der staatlichen Bäckerei zu kaufen, offiziell für "dekadent" erklärt wird, wenn im Hause Dobi (der Verwandtschaft mütterlicherseits) Politisches ins Spiel kommt: "Geheimniskrämerischer Giftzwerg, Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage, ha, ha, ha, die Mysterien des Louvre, he, he, he." (S.13, Reaktion eines kurz vor Schulabschluss stehenden Onkels darauf, dass beim jüngeren Bruder ein Parteibuch der Kommunistischen Partei entdeckt wurde)

"Eine Geschichte aus drei Zeiten" bringt Erinnerungen an Geschehnisse, Dinge, Menschen, Worte, die den Knaben seinerzeit obsessiv beschäftigt haben, außerdem sind sie eine Hommage an einen engen, früh verstorbenen Kindheitsfreund.
In "Zeit des Schreibens" gilt die Leidenschaft der beiden der Literatur. Gemeinsam wollen sie mit einem Roman den Beruhigungsmittelbedarf des Landes in schwindelnde Höhe treiben, wobei der offensichtlich in einer heroischen Fase befindliche Erzähler kaum über Titel ("Das ist der Sieg") Beginn und Schlusssatz hinauskommt und vornehmlich durch das Verfassen überschwänglicher Werbesprüche für das leider noch nicht existierende Meisterwerk glänzt. Besonders beeindruckt er den Freund indes als Lyriker:
"Ilir wirkte einen Moment lang wie überwältigt, dann griff er sich mit beiden Händen an den Kopf:
"Der Gipfel", sagte er mit einer merkwürdig schwankenden Stimme, die ich noch nie bei ihm wahrgenommen hatte. "Gewaltig, genial! Damit hast du die gesamte französische Dichtung in die Schranken verwiesen."
Daran hatte ich keinen Zweifel, trotzdem tat es gut, es auch aus einem anderen Mund zu hören.
"Lies es mir noch einmal vor", sagte er, und als ich es tat, kannte seine Begeisterung überhaupt keine Grenzen mehr.
"Die Franzosen hast du damit in den Boden gestampft", sagte er. "Jetzt hast du nur mehr die bulgarische Dichtung vor dir."
Ich wagte nicht zu fragen, worauf er sein überraschendes Urteil stützte."
(S. 90/91)
In "Zeit des Geldes" kann man ihn und den Freund bei einer anderen heftigen Leidenschaft, als unbekümmerte Gießer von 5-Lek-Bleimünzen und, als ihnen zwei Tage Gefängniserfahrung mehr Schande als Bewunderung einbringen, als zerknirschte Zwölfjährige erleben.
In "Zeit der Liebe" wird ein pubertärer Übergriff auf eine Mitschülerin aufgearbeitet, Deutungsmöglichkeiten bleiben offen.

Besonders kindlich, aber nicht undoppelbödig (erst 1999 wurde übrigens in dem alten Steinhaus der Kadares ein Geheimgang, von dem niemand in der Familie etwas geahnt, gefunden) geht es bei "Wie Hamlet mir half, die Gespenster zu vertreiben" zu. Wohl angeregt von den vielen leeren Winkeln und Räumen, Truhen und Kästen seines Hauses ist der Knabe einst auf die Vorstellung verfallen, die beiden schrecklichsten Arten von Wesen, die es gäbe, Gespenster und Räuber, würden einander nicht ausstehen können und dadurch sozusagen neutralisieren, doch als dann von der Regierung ein Lager von Räubern (Widerstandskämpfern?) ausgehoben und die Gefangenen im Triumphzug durch die Stadt geschleift werden, fühlt er dieses Gleichgewicht des Schreckens empfindlich gestört. Von der Wissenschaft im Stich gelassen (als "wirklich wichtige Dinge" werden in der Schule leider Banalitäten wie die Zusammensetzung von Wasser, keineswegs jedoch die Beschäftigung mit Gespenstern angesehen), muss er auf sich allein gestellt mit dem Übel fertigwerden. Nicht ganz allein, denn seine alte, für ihre Weisheit gerühmte Großmutter (die irgendwann in späteren Jahren verkündet, nicht mehr aus dem Haus zu gehen, was ihr Prestige unvermeidlich weiter hebt) und William Shakespeare leisten einen Bannbeitrag.

Bei "Die Puppe" handelt es sich um ein "Porträt der Mutter", so der Untertitel, welcher laut ihrem Sohn Ismail etwas Papierenes, Wächsernes, anhaftete, eine Unfähigkeit, stärker aus sich herauszugehen. Weiters eine starke Eigenwilligkeit der Wahrnehmungsweise (zum Beispiel späht sie in der Hoffnung, so etwas Aufschluss über diesen großen Krieg zu erhalten, mit dem Fernglas der dekadenten Kadares häufig Richtung griechische Grenze hinüber, oder es befällt sie angesichts des berühmt werdenden Sohns die Angst, er könne sie "verstoßen") und Anspruchslosigkeit in Bezug auf Bildung. "Als Sohn sah ich in ihr wahscheinlich weniger die Mutter als eine Siebzehnjährige, deren Entwicklung vorzeitig unterbrochen worden war." (S. 230)
Der Erzähler räsonniert über Gegensätzlichkeit zu und Verwandtschaft mit seinem eigenen künstlerischen Wesen und die Ähnlichkeit der Worte "Mutter" und "Finsternis" im Russischen, entwirft anhand solcher Reflexionen, biografischer Ausschnitte, einiger Kurzdialoge und weniger größerer Auftritte (ihre Rache an einer nicht nur den schönen Namen Izmini Kokobobo zum Vorzug habenden Cousine, ihr erfolgreicher Gebrauch der geflügelten Worte "Nicht schießen! Du machst alles nur noch schlimmer!", und auch ganz zum Schluss, beim Begräbnis) das skizzenhafte Bild einer einfachen (manchmal geradezu stereotypen) wie seltsamen Frau, dabei reichlich von seiner vielbewährten Fähigkeit, preiszugeben, anzudeuten, zu verschweigen, offenzulassen, Gebrauch machend.

(fritz; 11/2019)


Ismail Kadaré: "Geboren aus Stein. Ein Roman und autobiografische Prosa"
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
S. Fischer, 2019. ca. 320 Seiten.
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