Drago Jančar: "Wenn die Liebe ruht"


"Das Böse ist wie eine unsichtbare Wolke, die über der Erdoberfläche schwebt, es spürt, wo der richtige Nährboden und Brennpunkt ist, dass es anwachsen kann. Dort sinkt es tiefer. Dort beginnt es zu wachsen, die Menschen beginnen einander zu hassen. Dort ist Krieg. Niemand ist mehr, was er war oder was er sein wollte. Das Böse, das Wuchern. Dort werden unschuldige Menschen erschossen, dort brennen Häuser, dort liegen die Städte in Ruinen. Von dort breitet es sich aus, schließlich breitete sich die Wolke über ganz Europa aus und über die russischen Weiten, auch auf fernen pazifischen Inseln fand es günstige Verhältnisse, sank nieder und mordete." (S. 303)

Verantwortung und Schicksal im Strudel düsterer historischer Ereignisse: (Über-)Leben in Grenzbereichen

In "Wenn die Liebe ruht" führt der am 13. April 1948 geborene bedeutende slowenische Schriftsteller Drago Jančar das unmenschlich Menschliche anhand der Erlebnisse einer Handvoll Hauptfiguren überwiegend während des Zweiten Weltkriegs vor, wobei sowohl die männliche als auch die weibliche Perspektive jeweils gesondert plastische Gestalt annimmt, indem der äußerst zurückhaltende, unpersönliche, aus der Zeit gehobene und allwissende Erzähler (oder besser: Chronist) ebenso in die Zukunft wie die Vergangenheit der jeweils in den Blickpunkt gerückten Figur schaut und besondere Details erst nach kunstvollen Mäandern im weiteren Verlauf preisgibt, wodurch die Geschichte an Raffinesse, Spannung und Überraschungsmomenten gewinnt.


Drago Jančar bei der Präsentation seines Romans in Wien am 7. November 2019
(Foto: Doris Krestan)

Eine alte Postkarte mit einem während des Kriegs abgelichteten Motiv aus Maribor, die auch für den Buchumschlag verwendet wurde (was für eine bezaubernde Idee!), inspirierte den Autor, und diese gleichsam zu Leben erweckte Fotografie öffnet für den Leser das Fenster zum mehrere Erzählebenen aufweisenden Roman, sodass man sich unverzüglich mitten im Geschehen befindet.

Die Protagonisten jener grauenvollen Zeit des deutsch-slowenischen Konflikts sind: Valentin Gorjan, vor dem Krieg frisch verliebt und an der Universität tätig, während des Kriegs als anfangs naiv begeisterter, später frustrierter Partisan und danach als kommunistischer Funktionär unterwegs, nach dem Krieg Halt in den Überbleibseln seines zivilen Daseins suchend, seine (einstige) Freundin Sonja Belak, zu Beginn Medizinstudentin und Arzttochter, deren Opfer ihrem Schicksal eine üble Wendung verleiht, die sie für den Rest ihres Lebens entsetzlich zeichnen wird, und SS-Obersturmbannführer Ludwig (oder auch Ludek, je nach gerade herrschender Ideologie) Mischkolnig. Diese Drei geraten schicksalhaft aneinander, laden Schuld und Sünde auf sich, kämpfen ums Überleben, jeder auf seine eigene Weise.

Sie und viele Andere, darunter die nach dem Krieg verwitwete Krankenschwester Katica, deren Keller eines Tages ein auch für sie überraschendes Geheimnis beherbergt, lernen das Leben zwangsweise von unterschiedlichen Seiten kennen, auf die es sie aufgrund der historischen Ereignisse verschlägt, oder auf die sie sich bewusst und opportunistisch schlagen.
Als nämlich Valentin nach einer Aktion sturzbetrunken verhaftet und monatelang im Nazikerker in Maribor gefoltert wird, wendet sich Sonja verzweifelt an den ihr aus Kindertagen bekannten Ludwig, der aus der Situation zunächst Nutzen ziehen will und dann Schadensbegrenzung mit entsetzlichen Auswirkungen betreiben muss, was für die genannten Protagonisten prägende Ereignisketten ingangsetzt.

In die als Gegenwart geschilderten Entwicklungen flicht der Autor wiederholt nostalgische Gedanken, mit denen der sich Erinnernde jeweils immer weniger anzufangen weiß, ebenso ein wie mögliche individuelle, bisweilen absurd anmutende pseudorealistische Zukunftsszenarien. Kunstgriffe wie dieser erlauben gespanntes Mitfantasieren oder auch Miträtseln. Es lohnt sich, auf zunächst vielleicht unwichtig erscheinende Kleinigkeiten (z.B. wer bezeichnete die Augen als Spiegel der Seele?) zu achten ...
Der Roman gliedert sich in folgende Abschnitte: Erstes Kapitel "Das Mädchen von der Fotografie", Zweites Kapitel "Umarmung in der Mühle", Drittes Kapitel "Das Zimmer am See", Viertes Kapitel "Der Ausreißer".

Drago Jančar erzählt beklemmend anschaulich (jedoch gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger) eine Fülle von Geschichten von moralischem Verfall, von Ideologien und deren Anhängern im Wandel der Zeit, von Verlorenheit, von Völkerfeindschaften, allgegenwärtigem Misstrauen und den langen Schatten gesellschaftlicher Zerwürfnisse. Fanatiker und Mitläufer, Spitzel und Verräter, Kollaborateure, Helfer, Opfer und Täter - die Vorzeichen können sich schnell umkehren. Dann sind die zuvor überheblichen Jäger plötzlich die rachedurstig Gejagten, doch nicht jeder möchte als charakterelastischer Wendehals dabei mitspielen, einige Standhafte bewahren unter großen Opfern und Gewissensbissen ihre Mitmenschlichkeit oder versuchen zumindest, sich möglichst aus allem herauszuhalten.
Für Manche kommt die Einsicht, dass über kurz oder lang auf jeder Seite immer auch Folterknechte und andere Sadisten auftauchen, überraschend oder gar zu spät.

"Wenn die Liebe ruht", bravourös ins Deutsche übertragen von der 1980 geborenen Schriftstellerin und Übersetzerin Daniela Kocmut, präsentiert den slowenischen Schriftsteller Drago Jančar in bestechender Form. Stilistisch knüpft er durchaus an "Der Galeerensträfling" an, es finden sich auch in "Wenn die Liebe ruht" berückende Szenen, aufschlussreiche innere Monologe und aussagekräftige Dialoge, mit psychologischem Feingefühl gezeichnete Figuren und bilderreiche Naturbeschreibungen, zeitthematisch gibt es Überschneidungen mit "Die Nacht, als ich sie sah".
Für Kenner seines Ouevres wartet der Autor übrigens, wie man es von ihm kennt und schätzt, gegen Ende mit einer Episode auf, die seinen Roman "Nordlicht" (1984 im Original erschienen!) gewissermaßen aus der Zeit hebt.

"Wenn die Liebe ruht" ist ein von der ersten bis zur letzten Seite fesselnder Roman, ein dunkler Diamant von bleibendem Wert und strahlender Schönheit.

(kre; 08/2019)


Drago Jančar: "Wenn die Liebe ruht"
(Originaltitel "In ljubezen tudi")
Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut.
Zsolnay, 2019. 395 Seiten.
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