Paulus Hochgatterer: "Fliege fort, fliege fort"
Beeindruckende Erzählung
mit vielen Handlungssträngen, die sowohl nachdenklich als auch sehr
betroffen macht
Der Roman beginnt mit der Schilderung einer beklemmenden Szene aus der
Vergangenheit, welche bereits jene Stimmung, die sich durch die ganze
Erzählung zieht, spürbar macht. Kommissar Ludwig Kovacs ermittelt in
einer Reihe von seltsamen Vorfällen: Ein alter Mann gibt an, von der
Leiter gefallen zu sein, eine betagte Ordensschwester, beinahe an einem
Fenchelrisotto erstickt zu sein, und dann passiert bei der
Fronleichnamsprozession ein Anschlag mit einer Steinschleuder auf einen
der Teilnehmer.
Kovacs und seine Kollegen Florian Lipp und Petra Lindström befragen die
Opfer und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Dabei stoßen sie
jedoch immer wieder an ihre Grenzen. Warum lügen diese alten Menschen?
Was haben sie zu verbergen, was verbindet sie? In Kovacs' Stammlokal,
dem "Tin", betrieben von Lefti und Szarah, treffen sich die Ermittler
immer wieder - und auch dort wird plötzlich sichtbar, was Furth am See
immer mehr prägt: Vorurteile und Ablehnung gegenüber Ausländern,
"Ordnungskräfte" aus der rechten Szene und eine steigende Verunsicherung
der Bewohnerinnen und Bewohner des kleinen Ortes.
Parallel zu den polizeilichen Ermittlungen laufen weitere Erzählstränge:
In der Nacht werden von unbekannten Tätern politisch motivierte
Graffitis an ein öffentliches Gebäude gesprayt. Dann verschwindet ein
kleines Mädchen spurlos auf dem Weg zum Musikunterricht. Je länger
Elvira verschwunden bleibt, desto mehr sind alle aus ihrem Umfeld davon
überzeugt, dass sie tot ist. Der Kinderpsychiater Raffael Horn, der
häufig ungewollt laut ausspricht, was er denkt, trägt mit seinen
Recherchen genauso zur Aufklärung der mysteriösen Vorfälle bei wie die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Jugendzentrums mit ihrer
einzigartigen und skurrilen Klientel.
Je tiefer man in Hochgatterers Roman eintaucht, desto mehr verknüpfen
sich die Personen und Geschichten miteinander. Der Leser ist lange der
Einzige, bei dem die verschiedenen Erkenntnisse zusammentreffen. Man
wünscht sich im Lauf der Lektüre zunehmend, die gesammelten
Informationen an die relevanten Personen weitergeben zu können, damit
diese in der Lage wären, alle Puzzleteile zusammenzusetzen.
"Fliege fort, fliege fort" ist ein melancholischer, manchmal mit feinem
Wortwitz und originellen Dialogen entschärfter Roman, der auf
erschütternde Weise Verbrechen an Kindern am Rand der Gesellschaft
thematisiert - unaufgeregt erzählt und dadurch noch berührender und
beängstigender in der Wirkung.
Die dargestellten Personen haben mit ihren familiären Problemen, mit
ihrer Gesundheit oder ganz einfach mit ihren Eigenheiten zu kämpfen. Der
Roman ist stellenweise durchaus unterhaltsam, oftmals aber auch
verstörend. Man hat letztlich den Eindruck, die Aufklärung
der Verbrechen verliere immer mehr an Bedeutung, und es genüge,
dass der Leser versteht, worum es geht.
(Alexandra Gölly-Liebich; 10/2019)
Paulus
Hochgatterer: "Fliege fort, fliege fort"
Deuticke, 2019. 282 Seiten.
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