Norbert Gstrein: "Als ich jung war"


Was wir (nicht) über Andere wissen

Vorweg, Norbert Gstreins Roman "Als ich jung war" ist ein äußerst erfreuliches Lesererlebnis und womöglich einer seiner besten. Ruhig erzählt, nimmt er den Leser mit auf eine Reise ins Reich der Erinnerungen, die sich so zugetragen haben, wie sie der Erzähler im Gedächtnis hat, oder auch nicht. Es ist ein Roman, der sich mit dem Innenleben seiner Protagonisten beschäftigt, mit dem Bereich, in den der Außenstehende, egal wie nah er sein mag, keinen Einblick hat.

Norbert Gstrein stellt seinem Roman ein Zitat des Groschenromanautors Louis L'Amour voran: "A lot remained to be explained". Was es mit diesem Autor auf sich hat, wird erst viel später erklärt werden, das Zitat selbst erscheint am Ende des Romans wie eine Zusammenfassung einer Kernaussage.

Es ist eine Erinnerung an ein Unglück, das dreizehn Jahre zuvor passiert ist, die den Roman ins Leben ruft. Franz wundert sich, dass im Schlossrestaurant, das früher seinem Vater gehört hat, wieder Hochzeitsfeiern angeboten werden. Noch mehr darüber, dass derjenige, der sie nun anbietet, sein eigener Bruder ist. Nach alldem was passiert ist. Eine Konstellation von Unklarheiten und Andeutungen, die Norbert Gstrein virtuos dazu nutzt, die spannende Geschichte vor dem Leser auszubreiten.

Franz, in einem hinteren Winkel Tirols aufgewachsen, übernimmt als fünfzehnjähriger Internatsschüler im Sommer das Fotografieren der Brautpaare, die sich zum Fest im Schlosshotel des Vaters einfinden. Alles, was er vom Fotografieren weiß, hat er sich mit seiner "Leica" selbst beigebracht. Was zuerst eine günstige Notlösung war, erweist sich als besonderer Leckerbissen, weil die Fotos des jungen Franz bald zu einer Art Institution werden. Er findet schöne Motive, Winkel und Situationen, die er den Brautpaaren zumutet. Besonders interessant ist für ihn die Tatsache, dass er während der Fotogänge durch den Wald, hinauf zur Ruine, zur Lichtung hin, anhand des Verhaltens der Paare zu spüren meint, wie sich diese Beziehungen entwickeln werden. Am Ende, weit nach Mitternacht, bei den letzten Fotos, haben sich seine Eindrücke verfestigt oder aufgelöst.
"Es gab eine Stelle, zu der ich sie danach immer führte. Man ging vom Restaurant nur einen schmalen Weg durch den Wald, und dort tat sich noch einmal eine kleine Lichtung auf. Ich stellte sie alle auf den genau gleichen Platz und fotografierte leicht erhöht von einem Baumstumpf, weil dadurch im Hintergrund des Bildes gut sichtbar die Achterschleife erkennbar war, die Fluss und Autobahn weit unten im Tal bildeten und die mein Markenzeichen wurde, ein Blick in die Unendlichkeit. Sie mussten dazu an den Abgrund herantreten, immer noch weit genug weg, dass es gefahrlos war, aber doch so nah, dass ihnen die mögliche Gefahr nicht entging." (S. 16)

Genau an dieser Stelle stürzt wenig später eine frischverheiratete Braut in den Tod. Bereits die Hochzeit davor ist von einer unangenehmen Stimmung begleitet. Hier ist klar, dass etwas nicht stimmt. Am nächsten Tag, als sich herausstellt, dass die Braut nicht verschwunden, sondern tot ist, ergibt sich rasch die Frage, was genau passiert ist. War es ein Unfall? Ein Selbstmord oder gar ein Mord? Wer hat die junge Frau zuletzt gesehen, wer war mit ihr unterwegs?

Um das Geschehene zu verarbeiten, reist Franz in die Vereinigten Staaten, um bei einem entfernten Verwandten unterzukommen. Dort schlägt er sich als Skilehrer durch und bleibt. Er lernt einen älteren Professor kennen, der sein treuester Schüler wird, obwohl er bereits sehr gut Ski fährt. Die beiden Männer verbindet bald eine Art Freundschaft, und der Mann beginnt, Franz in die Geschichte seines Lebens einzuweihen. Doch auch er begeht Suizid. Und wieder steht Franz vor der Frage, inwieweit er dafür verantwortlich ist.

So muss Franz lernen, mit diesen beiden entscheidenden Ereignissen in seinem Leben umzugehen, gleichzeitig aber auch herausfinden, was er im Leben tun will. Er lernt die Witwe des Professors kennen, von der er bald nähere Details über das Leben des verstorbenen Freundes erfährt.
Er muss feststellen, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint.

Nach seiner Rückkehr nach Österreich, wo er im ehemaligen Hochzeitszimmer beim Bruder unterkommt, lassen ihn die Erinnerungen an die tragische Hochzeitsnacht vor dreizehn Jahren nicht ruhen. Jener Kommissar, der damals den Tod der Braut untersucht hat, konfrontiert ihn mit einigen Aussagen und Fakten, welche die Wahrheit, die er sich zurechtgerückt hat, gehörig in Frage stellen. Ebenso konfrontiert er ihn mit Informationen, die seinen ersten Kuss am Abgrund in ein Licht rücken, das, entpuppte es sich als Wahrheit, sogar strafrechtliche Konsequenzen für ihn bedeuten könnte.
"Ich hatte die Worte des Kommissars im Ohr, dass ich sie nur nicht zu kontaktieren versuchen solle, und seit er mir bei dem Hochzeitsfest auf den Tag genau ihr Alter gesagt hatte, war ich von anhaltender Unruhe erfasst. Denn in meiner Erinnerung manifestierte sich jetzt deutlich, dass ich augenblicklich gedacht hatte, sie könne kaum sechzehn sein, als sie bei unserem Spaziergang auf den Schlossberg behauptet hatte, sie werde in ein paar Monaten siebzehn, und ich konnte die Frage nicht mehr abstellen, wie dehnbar dieses - kaum sechzehn - war. Auf fünfzehn kam ich damit allemal, auf unter fünfzehn vielleicht, also vierzehn, und am Ende landete ich bei den dreizehn Jahren, zehn Monaten und vierundzwanzig Tagen des Kommissars." (S. 325, 326)

So verfällt Franz zunehmend in eine grüblerische Stimmung. Die drei Ereignisse wechseln sich ab, stellen einen Kontrapunkt zueinander dar und erlauben Norbert Gstrein ein virtuos verwobenes literarisches Geflecht, das diesen Roman zu einem wirklich beeindruckenden Buch werden lässt. Ein Gedanke führt zum anderen, irgendwie steht alles in einer Verbindung, auch wenn diese in Wahrheit gar nicht existiert. Und wenn es hier nicht um die wirkliche Aufklärung dieser Ereignisse geht, so ist es die psychologische Komponente, die für die Spannung verantwortlich ist. Was wissen wir über Andere? Was wissen wir über uns selbst? Wie vertrauenswürdig ist unsere Erinnerung? Wie damit umgehen, dass das, was wir ins Gedächtnis geschrieben haben, möglicherweise nur teilweise oder gar nicht der Wahrheit entspricht?

Norbert Gstrein hat mit "Als ich jung war" einen wundervollen, literarisch anspruchsvollen und dennoch ausgezeichnet lesbaren Roman geschrieben, der hoffentlich eine große Leserschaft finden wird. Seine fein geschliffenen Sätze und der genau konstruierte Aufbau des Romans machen ihn zu einem Roman, den man, wenn man begonnen hat, Franz' Erzählung zu folgen, nicht mehr aus der Hand legen kann.

(Roland Freisitzer; 07/2019)


Norbert Gstrein: "Als ich jung war"
Hanser, 2019. 349 Seiten.
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