Gøhril Gabrielsen: "Die Einsamkeit der Seevögel"
Die Leiden einer jungen
Forscherin
Dass anno 2019 Norwegen das Gastland der "Frankfurter Buchmesse" ist,
führt dazu, dass einige Bücher norwegischer Autoren übersetzt werden,
die wahrscheinlich sonst nicht übersetzt worden wären. Gøhril
Gabrielsens "Die Einsamkeit der Seevögel" ist vermutlich so ein Fall.
Nun ist der jüngste Roman der 1961 geborenen Autorin, "Die Einsamkeit
der Seevögel", in deutscher Übersetzung beim "Insel Verlag" erschienen.
Der Originaltitel "Ankomst", was auf Deutsch "Ankunft" heißt, wurde in
den etwas poetischer aufgeladenen (?) Titel "Die Einsamkeit der
Seevögel" abgeändert, was schade ist, weil das schlichte und Deutungen
zulassende "Ankunft" dem Charakter von Gabrielsens Prosa eher
entspricht.
"Im Schnee sind meine Spuren vom Strand bis zur Hütte zu sehen. Ich
folge ihnen zurück zu den Paletten, hebe die Plastikplane an, streiche
mit der Hand über ein paar Kisten. Jähe kleine Wellen schwappen im
seichten Wasser, ziehen und zerren am Blasentang zwischen den Steinen.
Das Rascheln, ein nasses Geräusch: Ich richte mich auf, spüre, wie die
Luft meine Lunge füllt, roh und eiskalt. Worauf warte ich noch? Es
wird Zeit, zu beginnen." (S. 8)
Eine junge Forscherin begibt sich wegen eines Forschungsprojekts in
die Finnmark, die nördlichste Region Norwegens. Und das auch noch
im Winter. Ihr Ziel ist es, die Einflüsse klimatischer Veränderungen auf
die Seevögelpopulationen zu untersuchen. Eine leerstehende Fischerhütte
steht ihr zur Verfügung. Ihr einziger menschlicher Kontakt ist der
Kapitän eines Versorgungsschiffs, der alle paar Wochen nach ihr sehen
und sie mit den notwendigen Lebensmitteln und Sonstigem beliefern soll.
Bald stellt sich heraus, dass sie aufgrund dieser Reise ihre Tochter bei
ihrem Ex-Mann S. (seinen vollen Namen erfährt der Leser nicht) gelassen
hat. Gleichzeitig wartet sie auf Nachrichten und Kontaktaufnahme von Jo,
ihrem Geliebten. Für ihn hat sie ihren Mann verlassen. Ihre
Kommunikationsmittel sind ein Satellitentelefon und eine Art
Videotelefonie. Die Jo aber nur zu bestimmten Zeiten zulässt. Jos
Ankunft verzögert sich mit jedem Tag immer mehr. Er ist seiner Tochter
eine Stütze, will sie nicht bei seiner beschäftigten Ex-Frau lassen,
solange nicht alle Bedingungen stimmen. Das sorgt bei der Forscherin und
Icherzählerin dieses eindringlichen Romans für immer stärker werdende
Irritationen, die sie bei ihrer Kommunikation mit ihm allerdings nicht
artikuliert, weil sie spürt, dass jeglicher Druck ihrerseits zu einer
Entfremdung führen würde.
Gleichzeitig erinnert sie sich an eine tragische Geschichte von
Borghild, Olaf und ihren Kindern, die sich an ihrem Aufenthaltsort vor
hundertvierzig Jahren abgespielt hat. Eine junge Ehe, ein junges Glück,
das von einem Feuer zerstört wurde.
"Ich sehe es aus der Vogelperspektive:
ihre Reise an der Küste entlang. Borghild steht an der Reling, den
Blick auf das Land gerichtet. Den Bug, der das Wasser zerteilt.
Wellen, die hochschlagen und sich brechen wie die Flügel eines
Seevogels im Gleitflug, direkt über der Meeresoberfläche. Und ich sehe
ihn, Olaf, den Nestbauer, viele, viele Seemeilen entfernt, der den
ganzen Frühling an dem Blockhaus gearbeitet hat, Balken für Balken,
während er an sie gedacht hat und an die Kinder, die sie bekommen
würden, die Freude und die Wärme, die die Zimmer erfüllen würde, die
er so hoffnungsvoll mit dem feinsten Moos abdichtete." (S. 32)
Gøhril Gabrielsen lässt ihre Protagonistin eindringlich erzählen, in
ihren Erinnerungen kramen. In Gedankenstrommonologen, die sich mit
konkreten Gegebenheiten aus ihrem Leben abwechseln, entsteht so ein Bild
einer unsicheren, leidenschaftlichen Frau, die damit kämpft, vielleicht
die falschen Entscheidungen getroffen zu haben. Auch vermutet man bald,
dass ihr Ex-Mann S. ein zumindest fragwürdiger Charakter ist, der die
Trennung möglicherweise doch nicht überwunden hat. Von einer Frau, die
davor steht, sich selbst zu verlieren. In ihrer Einsamkeit und
Ausweglosigkeit. In ihrem Wunsch nach Liebe, Geborgenheit. Auch die
Rolle und Figur des Kapitäns des Versorgungsschiffs wird immer dubioser,
bald merkt man, dass hier höchstwahrscheinlich Wirklichkeit und Wahn
beginnen, ineinander zu verschwimmen. Ebenso, wie die Gegenwart mit der
Vergangenheit (des Ortes) immer stärker vermischt wird.
"Eine Weile lauschte ich noch auf die vertrauten Geräusche, das
Rationale und absolut Messbare jedes einzelnen von ihnen. Ich strich
mir mit den Händen übers Gesicht, über den Hals und die Brust, um den
letzten Rest meines Unbehagens loszuwerden. Ich strich und strich, bis
ich mir vollkommen sicher war: Es war mein eigenes Gewissen, das ich
gehört hatte, mein eigener Kummer, dem ich Raum gegeben hatte, dem ich
erlaubt hatte, sich zu entfalten, einzig und allein vor mir selbst."
(S. 107)
Dazwischen erfährt man viel
über Vogelkunde, merkt aber auch, dass Gabrielsen virtuos
Verhaltensmuster der verschiedenen Vogelarten mit der eigentlichen
Geschichte in Einklang bringt. Die so entstehende Verdichtung ist
wahrlich kunstvoll angelegt, nicht nur, dass sich alle Erzählstränge
verdichten, auch Gabrielsens Prosa verändert sich, sodass man kurz vor
dem Ende dieses schmalen Romans in einem atmosphärisch dichten Strudel
gefangen ist, der alles Andere als Klarstellungen bringt. Der Schluss
selbst ist von einer immensen Spannung, die selbst in einem Thriller
Gänsehaut erzeugen würde. Und das in einer Sprache, wunderbar übersetzt
von Hanna Granz übrigens, die immer hochliterarisch anspruchsvoll ist.
Die Hoffnung, dass die weiteren Romane dieser wirklich interessanten
Autorin bald in deutscher Sprache folgen, ist groß.
(Roland Freisitzer; 08/2019)
Gøhril Gabrielsen: "Die Einsamkeit der
Seevögel"
(Originaltitel "Ankomst")
Aus dem Norwegischen von Hanna Granz.
Insel, 2019. 174 Seiten.
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Gøhril Gabrielsen, geboren 1961, wuchs in Finnmark auf, wo auch ihr Roman spielt, und lebt heute in Oslo. Für ihre bislang fünf Romane wurde sie von Literaturkritik und Publikum gleichermaßen gefeiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem "Aschehoug Debutant Preis" anno 2006.