Joel Whitebook: "Freud"

Sein Leben und Denken


Eine intellektuelle Biografie

Joel Whitebook, Philosoph und Psychoanalytiker, bezeichnet seine Vita von Sigmund Freud, des Begründers der Psychoanalyse, an einer Stelle als intellektuelle Biografie. Womit die Schwerpunktsetzung seiner Biografie klargestellt ist. Im Spannungsfeld von Leben und Denken ist dem Denken der Vorzug gegeben. Was wohl auch sehr trefflich zur historischen Person des Sigmund Freud passt, der lebte, um zu denken, dem seine intellektuellen Ambitionen vorgingen, derweilen ihm sein biologisches Dasein, um das auch kein Geistesmensch umhin kann, mehr ein Beschwernis war. Sein nicht besonders vitaler und in eher jüngeren Jahren schon kränklicher, jedenfalls nicht besonders tauglicher und ab 1923 von einer fortschreitenden Krebserkrankung geplagter Körper war ihm keine große Stütze. Freuds Ungemach mit der eigenen Leiblichkeit verleitet den Autor Joel Whitebook zu Spekulationen über das Verhältnis Freuds mit dem vor Kraft strotzenden Carl Gustav Jung. Dessen Athletik verkörperte, was Freud gerne gewesen wäre, weshalb er in dem agilen Schweizer nur zu gerne den zukünftigen Verwalter seines geistigen Vermächtnisses gesehen hätte. Wenn da nicht unüberbrückbare Gegensätze im Denken der beiden Intellektuellen gewesen wären, die letztlich zum Zerwürfnis führten.

Joel Whitebook gewährt dem Leser keinen indiskreten Blick unter die Tuchent. Er reißt dem seligen Herrn Freud nicht post mortem die Kleider vom Leib, um einem sensationsheischenden Publikum dessen Blöße vorzuführen. Was zuweilen in Biografien zu anderen Prominenten zu lesen ist, dass beispielsweise deren Wäsche und Atem übel rochen, und dergleichen üble Indiskretionen, bleibt bei Whitebook komplett ausgespart. Der Sinn und Zweck von Biografien sollte nicht sein, Wehrlose durch den Dreck zu schleifen. Nur allzu bekannte Lebensdaten, die im Internetzeitalter jeder mit Mausklick in Erfahrung bringen kann, werden nicht neuerlich durchgekaut. Mehrfach fehlen zu den beschriebenen Ereignissen die Jahresangaben. Whitebook fügt seine Schrift nicht in den Zirkel ewig gleicher Lebenserzählungen ein, sondern reflektiert das Denken Freuds im Spiegel seines Lebens. Anhand der Lebensstationen skizziert er ein Gerüst, das mit dem festen Gewebe freudschen Denkens gestopft wird.

Zu Beginn einer jeden Biografie stellt sich die Frage nach der Herkunft. Kein Menschenskind fällt vom Himmel. Auch Freud nicht. Whitebook sieht bereits bei Vater Jacob Freud die für seinen Sohn vorherbestimmende Integrationsleistung eingeleitet. Jacob Freud, ein galizischer Jude, bricht mit den strengen Traditionen des Ostjudentums und setzt Akzente in Richtung einer Hinwendung zur Kultur der Aufklärung. Sohn Sigmund wächst unter säkularen Verhältnissen auf. Allein die Mutter erinnert noch an die weltverschlossene Kultur des jiddischen Schtetl. Sie spricht ihr Lebtag lang Jiddisch und wird der deutschen Umgangssprache nicht wirklich mächtig.
Österreich unter den Habsburgern ist den Juden eine gute Heimat. Wer sich integriert, dem wird die Chance des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Bildung geboten. Viele Juden nützen diese Chance und steigen die soziale Leiter hoch. Der Bildungshunger ist groß. Und Wien erlebt eine kulturelle Hochblüte. Die nicht unwesentlich ein Verdienst der jüdischen Gemeinde ist.

Auch für den jungen Sigmund, dessen außerordentliche Geistesgaben die Eltern früh erkennen und fördern, ist Bildung ein überragender Wert. Diszipliniert verfolgt er seine Bildungsziele. Er ist ein ausgezeichneter Schüler. Selbstbeherrschung ist ihm eine hohe Tugend. Was schon einmal tyrannische Züge annehmen kann, wenn er die musikalischen Neigungen seiner jüngeren Schwestern unterbindet, zumal ihm Musik ob deren verführerischer Kraft zum sinnlichen Schwelgen verhasst sein dürfte. Die Vergeistigung des jungen Mannes lässt ihn frühsexuelle Erfahrungen komplett verpassen. Mädchen sind ihm fremd. Zudem empfindet er sich als unattraktiv, demnach amouröse Abenteuer ohnehin nicht sein Ding seien. Als 30-Jähriger tritt Freud nichtsdestotrotz - nach vierjähriger Verlobungsphase - in den Stand der Ehe (1886). Womit zugleich - mutmaßlich ab diesem Zeitpunkt (Whitebook spioniert dem nicht hinterher) - sein Sexualleben einsetzte.
Gemeinsam mit seiner Frau Martha werden binnen neun Jahren sechs Kinder gezeugt. Und was dann? Freud, in dessen Theorie Sexualität einen überragend hohen Stellenwert einnimmt, beschließt im Einvernehmen mit seiner angetrauten Frau, die eheliche Sexualpraxis einzustellen. Kultur als Triebverzicht also? Warum die Enthaltsamkeit im besten Alter? Der Biograf weiß es nicht, wir wissen es nicht, und es hat uns auch nicht zu interessieren. Freud vergeistigt; vielleicht war es das. Auch seine gesundheitliche Verfassung ließ zu wünschen übrig (Herzbeschwerden seit Beginn der 1890er-Jahre). Unrecht taten Freud jedenfalls jene übel meinenden Zeitgenossen, die ihn als den "Lustlümmel aus der Berggasse" zu denunzieren trachteten.

Es ist Whitebook anzurechnen, dass er der Versuchung widersteht, die Eigentümlichkeiten und aus herkömmlicher Sicht Absonderlichkeiten des vergeistigten Herrn Freud voyeuristisch auszuweiden. Das lediglich zwischenzeitliche Sexualleben Sigmund Freuds ist ihm kaum der Erwähnung wert und hat als Thema nicht einmal im Licht von Freuds Sexualtheorie Bestand. Betreffend die Sexualtheorie beweist Whitebook allerdings, dass er kein gläubiger Freud-Jünger ist, denn er wertet diesen Aspekt des Freudschen Gesamtwerks als kompletten Blödsinn. Mädchen seien kastrierte Knaben. Ihre Klitoris sei ein verkümmerter Phallus. Den Knaben seien sie deren Penis neidig (Penisneid). Sexuelle Entwicklung funktioniere vermittels des Penis, und da Mädchen diesbezüglich verkümmert seien, hätten sie auch keine sexuelle Entwicklung. Seine Sicht der Frau war frauenfeindlich.
Freud war mit Herz und Seele den Grundsätzen der Aufklärung verschrieben, aber was er sich da leiste, stelle die Verhältnisse auf den Kopf. Und sei aus dem Geist eines finsteren Patriarchats geboren.
Whitebook stellt klar, es könne nicht seine Aufgabe sein, Freuds Denken einfach nur zu huldigen, sondern viel mehr dieses einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Übrigens finde man bei allen großen Denkern der Geistesgeschichte mehr oder weniger peinliche Aussetzer. Die Konsequenz, welche die Nachwelt daraus zieht, treibt den Prozess der Zivilisation voran.

Von der verfehlten Sexualtheorie einmal abgesehen, beschreibt Whitebook Sigmund Freud als radikalen Aufklärer. Als einen Mann der Wissenschaft. Abhold einer jeden Metaphysik, deshalb mit Distanz zur spekulativen Philosophie. Redlich im Ausdruck, zumal er nicht mit wichtigtuerischer Gebärde als Wissender auftritt, sondern, wie es einem Arzt geziemt, Verordnungen verfügt (Empfehlungen zur Therapie). Sein Ethos machte Freud zum Vorkämpfer für den souveränen Bürger, weshalb er in seiner ärztlichen Praxis interventionistischen Methoden, die Hingabe oder gar Unterwerfung unter den Willen des Heilers fordern (bspw. Hypnose), mit Skepsis begegnete, hingegen sein psychotherapeutisches Verfahren der Psychoanalyse (freies Assoziieren) die Autonomie des mündigen Patienten respektiert.

Ein wesentlicher Charakterzug Freuds sei dessen Atheismus gewesen. Freud vollzog sein Leben und Denken als "gottloser Jude". Wobei die Gottlosigkeit unstrittig sei. Man könne lediglich noch darüber spekulieren, inwieweit dieser Mann, der mit allen Traditionen des Judentums gebrochen hat, überhaupt noch als Jude zu verstehen ist. Der "Wiener psychoanalytischen Vereinigung" gehörten seinerzeit ausschließlich Juden an. Was angesichts des vorhin bereits erwähnten Bildungshungers der österreichischen Juden nicht weiter verwunderlich ist. Freud bereitete es jedoch Sorge, dass man die junge Wissenschaft der Psychoanalyse deshalb als jüdische Sekte verkennen könnte.

Da trat C.G. Jung in das Leben von Freud. Ein um neun Jahre jüngerer, athletischer, hochintellektueller Schweizer, der in seiner Heimat bereits einen rühmlichen Ruf erlangt hatte. Jung brachte frischen Esprit in die "Wiener Vereinigung". Und Jung war nicht Jude. Whitebook schreibt der Bekanntschaft mit Jung eine überragende Bedeutung zu. Das geht so weit, dass er quasi eine Biografie in der Biografie schreibt. Der Leser erfährt einige Details aus dem Werdegang von C.G. Jung, welcher einem kleinbürgerlichen, frömmelnden, anti-intellektuellen Milieu entstammte. Anders als Freud, dessen Eltern seine geistige Entwicklung förderten, hatte es Jung mit verachtenswerter Bigotterie zu tun. Auf tiefschürfende Fragen des jungen Mannes reagierte sein Milieu genervt und verständnislos. Jung entstammte einer Welt ohne Geist, die, ausgerechnet sie, einen Titanen des Geistes gebar.
Jung war in vielem das, was Freud gerne sein mochte, aber nicht war. Deshalb begeisterte er sich für Jung. Umso herber war die Enttäuschung, als Jung nicht in die Fußstapfen des Meisters aus Wien trat, sondern eine eigene Psychologie hervorbrachte, die sich in ihren wesentlichen Zügen oppositionell zur Psychologie des Sigmund Freud verhielt und deren Ideenlehre mit jener von Freud unverträglich war. Freud war rigoroser Aufklärer, Jung bezog zusehends Standpunkte der Gegenaufklärung. Freud wünschte die Welt mittels Methoden der Wissenschaften zu entzaubern, Jung bedauerte die Trostlosigkeit einer entzauberten Welt. Freud strebt nach der Erhellung aller Verhältnisse, Jung wendet sich dem archaisch Dunklen zu. Seine Lehre von den Archetypen entzieht sich dem naturwissenschaftlichen Prinzip. Die überragende Bedeutung, die Freud der Sexualität beimaß, war Jung nicht nachvollziehbar. Jung unterstreicht die spirituelle Dimension des Menschseins. Sie veredelt und adelt, stiftet Sinn, heilt, bewahrt vor Verwilderung der Sitten. Ein Leben ohne spirituellen Sinn verkümmert im Materiellen. Folglich kommt der Religion als archetypischer Manifestation des kollektiven Unbewussten ein hoher Stellenwert zu. Für Freud war Religion unerfülltes Wunschdenken, das Antworten auf letzte Fragen vorspiegelt, dieses ohne jede Grundlage und völlig unverbürgt, eine verführerische Anmaßung, von der es sich zu emanzipieren gilt. Religion zurückdrängen, das heißt den Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.
Die Gegensätze zwischen Freud und Jung hätten nicht unversöhnlicher ausfallen können. Die beiden Männer entzweiten sich. Nichtsdestotrotz blieben sie einander fruchtbar. Whitebook verweist darauf, dass die späteren Schriften Freuds mehr oder weniger aus dem Geist des intellektuellen Konflikts mit C.G. Jung erwachsen sind. Ohne Herausforderung durch Jung wäre das Denken Freuds nicht zu dem geworden, was es uns heute ist.

Whitebooks Freud-Biografie ist sicherlich nicht die schlechthin leichte Kost. Kein Freud für Anfänger. Die Kenntnis von Grundbegriffen aus Freuds Psychoanalyse werden vorausgesetzt. Was in Zeiten von Recherchequellen per Internet nur hartgesottene Technikverweigerer vor ein Problem stellen dürfte. Die Terminologie ist zu bewältigen. Eine Biografie des Denkens liest sich freilich in jedem Fall schwieriger als eine des Lebens. Sie ist der Alltagswirklichkeit fremder.
Erleichtert wird die Lektüre durch die Übersichtlichkeit der Darstellung. Whitebook hat seine Biografie thematisch nach Sachbezügen untergliedert. Die Kapitel sind nicht nach Lebensstationen benannt, sondern lesen sich beispielhaft so:
"Die Religion und die Aufopferung des Intellekts", "Hilflosigkeit als anthropologischer Fakt", "Die Wissenschaft und der Standpunkt der Endlichkeit".

Zu diesen und anderen wohl sperrig klingenden aber nicht so gestalteten Themenstellungen erwartet den Leser eine Sammlung von in sich abgeschlossenen Aufsätzen. Der Leser ist demnach nicht genötigt, das Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, um ein Verständnis vom Zusammenhang zu wahren. Die Biografie erfüllt sich letztlich nicht in einer Gesamtschau, sondern in der Einzelschau. Je nach Stimmung und Interesse kann kreuz und quer gelesen werden. Was der Rezensent als durchaus intellektuell lustvoll erlebte. Insofern eignet sich das Buch auch als Nachschlagewerk zum raschen Informationsgewinn. Bloß biografische Daten gewinnt man heutzutage unkompliziert über frei zugängliche Wissensdatenbanken. Für die Erlangung von tiefem Wissen ist das klassische Buch jedoch immer noch der beste Quell.

(Harald Schulz; 02/2019)


Joel Whitebook: "Freud. Sein Leben und Denken"
(Originaltitel "Freud. An intellectual biography")
Übersetzt von Elisabeth Vorspohl.
Klett-Cotta, 2018. 559 Seiten.
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Joel Whitebook, Ph.D., ist Psychoanalytiker und Philosoph. Er lehrt an der Fakultät für psychoanalytische Ausbildung und Forschung der Columbia University New York, ist Direktor des dortigen "Psychoanalytic Studies Program" und arbeitet in eigener Praxis.

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