Franzobel: "Rechtswalzer"
Ein
genresprengender Kriminalroman, der sich als höchst
beklemmende Dystopie entpuppt
Franzobels als Kriminalroman bezeichneter Roman "Rechtswalzer" ist
bereits das dritte Buch mit Kommissar Groschen. Während die
ersten beiden Kriminalromane "Groschens Grab" und "Wiener Wunder" eher
stilisierte Wien-Noir-Krimis waren, mit hohem Unterhaltungswert,
herrlich bissiger und bisweilen auch politisch definitiv unkorrekter
Gesellschaftskritik (was man halt darunter verstand), so ist
"Rechtswalzer" nun deutlich anders. Natürlich gibt es auch
darin eine klar erkennbare Krimihandlung, auch wenn diese bald ein
wenig in den Hintergrund rückt und erst mit dem Zuspitzen der
verschiedenen Stränge am Ende eine Auflösung findet.
Allerdings gilt, wie in den beiden Vorgängern, auch:
Hartgesottene Krimiliebhaber werden wahrscheinlich kaum auf ihre
Rechnung kommen.
Protagonist dieses Romans ist ein gewisser Malte Dinger,
Eigentümer einer Gin-Bar und eines Getränkehandels,
nur noble Ginsorten natürlich, dazu allerlei gute
Häppchen, das pure Bobo-Leben. Sein Martyrium beginnt mit dem
zufälligen Fund eines Mobiltelefons, nachdem er seinen Sohn
Carvin am 6. September 2024 zum ersten Schultag abgeliefert hat.
Während er noch überlegt, was er mit dem Telefon tun
soll, läutet es. Der Inhaber der anonymen Nummer teilt ihm
mit, dass es ab jetzt aus mit seinem Glück sei. "Ab
heute wendet es sich gegen dich, entzieht dir das Universum seine
Gunst. Du bist raus, kapiert? Raus. Du hast ausgeschissen in der
Welt!"
Malte, der natürlich davon ausgeht, dass der wahre Besitzer
dieses Telefons gemeint ist, denkt nicht weiter an diese Warnung. Wenig
später wird er in der U-Bahn kontrolliert und muss
feststellen, dass er seine Monatskarte nicht dabei hat. Er erinnert
sich, dass sie von seiner Frau verwendet worden ist. Er hat nicht genug
Bargeld bei sich, gibt einen falschen Namen an und kann auch am
Bankomaten nichts abheben, weil seine Frau gerade ein neues
Möbelstück gekauft hat. Die beiden recht dubiosen
Kontrollore lassen sich auch nicht umstimmen, und so führt das
zu einer Konfrontation, bei der Malte Dinger ungewollt einem Polizisten
den Zahn ausschlägt und die Hand bricht. So kommt er an diesem
Freitag in Untersuchungshaft, wo er bis Montag auf die
Haftprüfung warten muss. Er darf weder telefonieren, noch
sonst irgendwie Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Das liegt
unter Anderem daran, dass sich Österreich stark
verändert hat, seit die "LIMES Bewegung" die absolute Mehrheit
im Parlament hat. Alles ist nun anders, vor allem Ausländer
werden drangsaliert, und Häftlinge haben gar keine Rechte mehr.
Derweil wird in der Strozzigasse eine übel zugerichtete Leiche
aufgefunden. Das Mordopfer Branko wurde mit heißem Wasser zu
Tode klistiert. Klingt übel, ist es auch. Kommissar Groschen
wird zum Tatort gerufen und beginnt mit der Untersuchung des Mordfalls,
die ihn unter Anderem an die kroatische Küste und in die
Republik Moldau führen wird. Seine Wege haben vorerst keine
direkten Schnittstellen mit Malte Dinger, erst langsam kristallisiert
sich da eine Verbindung heraus.
Franzobel zeichnet ein bestechend erschreckendes Bild von
Zuständen, die, da muss man nicht weit ausholen, gar nicht so
abwegig sind, wie sie vielleicht klingen mögen. Die "LIMES
Bewegung", die von zwei miteinander koaliierenden "Meistern" (so lassen
sich die beiden Parteispitzen nennen) geleitet wird, setzt da an, wo
die heutige Koalitionsregierung noch an der Rechtsstaatlichkeit und dem
OGH gescheitert ist. Überall, auch in den Kommissariaten,
hängen die Plakate der Bewegung, die davon künden,
dass "LIMES" die Stimme des Volkes sei.
"Seine Frau machte sich Sorgen über die politische
Entwicklung, den Minister, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das
Bundesamt für Verfassungsschutz und
Terrorismusbekämpfung übernommen und in 'Amt des
Glaubens' umbenannt hatte, aber Groschen hatte sie beruhigt. Wir leben
in Österreich, einem fortschrittlichen, wohlhabenden und
aufgeklärten Staat. Dieser LIMES-Spuk wird bald
vorüber sein ... Außerdem, so schlecht ist das gar
nicht. Seine Frau hatte ihm dennoch geraten, zur Politik zu schweigen,
besonders im Kommissariat, aber das tat er sowieso. Bald, sagte sie,
würde es Denunziationen geben, würden sich Leute, die
sich seit langem kannten, gegenseitig anschwärzen. In
Österreich? Niemals!"
Malte Dingers Haftprüfung läuft völlig aus
dem Ruder, weil er sich nicht zurückhalten kann und auf seinen
Rechten und der Wahrheit besteht. Somit muss er bis zur Verhandlung,
auf die er einige Monate zu warten hat, in Haft bleiben. Er teilt sich
die Zelle mit dem bekannten Lobbyisten Persenbeug, den er bald Ybbserl
nennen darf. Im Untersuchungsgefängnis beginnt er zu
verstehen, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie früher.
Das Verhältnis seiner Frau zu ihm kühlt von Besuch zu
Besuch ab, und er lernt, mit Skinheads, Nazis und
anderen Gefängnisexistenzen umzugehen. Eine harte Schule,
für den Leser nicht immer leicht zu verdauen, doch muss er da
genauso durch wie der Protagonist, der sich, dank eines Buchgeschenks
von Persenbeug, bald wie Hiob fühlt, nachdem seine Rolle als
Michael
Kohlhaas misslungen ist.
Groschen ermittelt währenddessen weiter und entdeckt bald,
dass an Brankos Ermordung eine wohlhabende, wenn auch
äußert dekadente Familie irgendwie beteiligt sein
muss, die in einem noblen Vorort Wiens wohnt. Die Parallelen zur
Realität sind hier geschickt notdürftig
verändert, wer will, kann sowohl allgemein bekannte
Persönlichkeiten (zumeist jedoch Hybridgestalten) entziffern,
unter Anderem den Nachrichtenmann Lex Arminius (dessen Verweilen als
Nachrichtensprecher von Groschen als Beruhigung empfunden wird -
solange Lex Arminius so arbeiten kann, passt es eh ...), wodurch die
vermeintliche oder tatsächliche Aktualität dieses in
fünf Jahren angesiedelten Romans noch verstärkt wird.
Als Persenbeug eines Nachts in der Zelle ermordet wird, wird Malte
Dinger des Mordes angeklagt und auch zu einer hohen Haftstrafe
verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt ist Lex Arminius bereits für
seine Schandtaten im Journalismus verhaftet und verurteilt worden.
Malte Dinger hat sogar noch Glück, dass die soeben wieder
eingeführte Todesstrafe erst ein paar Tage nach seiner
Verurteilung greift. Die Absurditäten werden immer abstruser,
auch wenn man sich längst nicht mehr wundert, was alles geht.
"Da stürmte ein aufgebrachter Mann, der Malte
verblüffend ähnlich sah, aus dem Gerichtssaal, rief:
- Bin ich tot? Sieht so ein Toter aus? Eine Schweinerei ist das, aber
das lasse ich mir nicht bieten. Wir müssen in Berufung.
- Ich fürchte, sagte sein Rechtsbeistand, das wird nicht
gehen. Sie sind für tot erklärt worden, und Tote kann
ich nicht vertreten.
- Tot? Ich? Was meinen Sie, der Mann ging auf Malte zu, betrachtete
ihn
wie ein Spiegelbild, war irritiert, fing sich wieder:
- Sieht so ein Toter aus?"
Groschens Untersuchung nimmt immer mehr Fahrt auf und wird so auch im
kriminalistischen Sinn spannend, die Verästelungen des
Kriminellen ziehen sich bis in die höchsten
Gesellschaftsschichten und in Regierungskreise, man kennt derlei.
Groschen deckt auf, wie der Turbokapitalismus vor nichts mehr
haltmacht. Alles ist verkäuflich, solange die Richtigen daran
eine Stange Geld
verdienen können, auch das nichts Neues.
Alles spitzt sich dann beim Opernball zu, wo die Dinge
gänzlich aus dem Ruder laufen. Mehr möchte der
Rezensent zur Handlung nicht verraten, weil sonst zu viel
vorweggenommen wäre.
"Unser Glaube ist unerschütterlich, proklamierte der
Meister. Wir sind keine Vasallen des Sozialstaates
mehr, keine Knechte
der überkommenen Demokratie. Die große Wende hat das
Rasen in Richtung Abgrund gestoppt. Wir sind bereit, gegen die
Invasion
des Multikulti zu kämpfen. Die offene Gesellschaft hat ihre
Chance gehabt und ist gescheitert. Daher brauchen wir nun Ordnung,
Strenge und Kontrolle. Nicht kann den LIMES besiegen, nichts kann ihn
überwinden! LIMES ist vollkommen! Und niemand, der sich uns in
den Weg stellt, wird ungeschoren davonkommen ..."
Franzobel ist mit "Rechtswalzer" ein schaurig starkes Stück
Literatur gelungen, das keine Grenzen scheut und ein beklemmendes Bild
unserer Zeit zeichnet, auch wenn das, was darin passiert, vorgibt, in
der nahen Zukunft angesiedelt zu sein. Es ist ein Roman, der deutlich
macht, wohin das führen kann, was längst in die Wege
geleitet worden ist. Es ist ein Roman, der eine starke Botschaft
sendet, der diejenigen aufrütteln soll, die sich noch
aufrütteln lassen, der geistreich und zugleich mutig ist. Der
zeigt, was mit einem "Normalbürger" passieren kann, der
plötzlich nicht mehr auf seine Grundrechte pochen kann, wenn
diese bereits ausgehebelt worden sind. Natürlich ist
"Rechtswalzer" auch ein spannender Kriminalroman, der die Grenzen des
Genres höchst effektiv sprengt und so zu großer
Literatur wird.
(Roland Freisitzer; 01/2019)
Franzobel:
"Rechtswalzer"
Zsolnay, 2019. 413 Seiten.
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