Leopold Federmair: "Tokyo Fragmente"
Flanieren
in Japan
Der 1957 in Wels geborene Schriftsteller Leopold Federmair wohnt seit
16 Jahren mit Familie in Hiroshima, Japan. Davor hat er einige Jahre in
Buenos Aires gelebt, seine offensichtliche Liebe zum Tango
scheint also
entweder dort geboren oder gepflegt worden zu sein. Leopold Federmair
hat Romane und Erzählungen ebenso wie Essays geschaffen und
ist als literarischer Übersetzer aus dem
Französischen, Spanischen und Italienischen tätig.
"Tokyo Fragmente", laut Vorwort bewusst ohne Bindestrich, ist das
Resultat von Aufzeichnungen, die der Autor über Jahre hinweg
gesammelt hat. Er stellt diesem faszinierenden literarischen Werk ein
Motto voran, das auf paradoxe Weise eine negative Absicht frisch und
froh mitteilt: "Ich ging im Walde so vor mich hin, und
nichts zu suchen, das war mein Sinn ..."
So abstrus das vielleicht klingen mag, ist es genau dieses Motto, das
wegweisend durch diese Texte führt. Allerdings sollte man
"nichts suchend" nicht mit
"absichtslos" verwechseln, denn auf der ziellosen Suche zu sein ist
definitiv nicht absichtslos. Nur eben ohne bestimmtes Ziel.
"Eine Großstadt wie Tokyo und ein Text wie dieser
haben die Konsistenz einer Baguette: bei aller Dichte wollen sie
luftig
bleiben. Sie enthalten winzige Hohlräume, die Stadt ist von
Baulücken durchsetzt, von großflächigen
Parks und von schmalen Spälten zwischen dicht stehenden
Häusern, von Schleichwegen und Wasserläufen ..."
Und so nimmt man Teil an diversen Reisen Leopold Federmairs, nach Tokyo
und in andere Städte in Japan, ebenso wie nach Mexico City.
Wobei auch hier das Reisen per se nicht im Mittelpunkt steht, sondern
die Beobachtungen und Gedanken, die der Autor beim ziellosen Suchen
gefunden und in Worte gefasst hat. Und darin liegt die Stärke
dieses Texts, der ebenso gut eine Erzählung sein
könnte, bei der ein fiktiver österreichischer, in
Japan lebender Schriftsteller seine Gedanken zu Japan, zur japanischen
Mentalität und diversen anderen Begebenheiten und Situationen
in wunderbar eloquente Prosa gefasst hat. Das erinnert in gewisser
Weise, auch durch die Inklusion von Fotos, an Teju Cole oder auch Tomas
Espedal, ohne dass Federmair eine Zurschaustellung seines Innenlebens
(anders als sein norwegischer Kollege) betreiben würde.
Seine Japan-Beobachtungen sind sehr präzise und poetisch, wenn
er beispielsweise von der eigenartigen Stille schreibt, die einem in
Japan auch an belebten Orten begegnen kann.
"... saß ich noch eine Weile in einem
St-Marc-Café, holte mir einen Kaffee um 190 Yen und ein
Schokocroissant an der Theke, wo ein Trupp Studentinnen bediente,
stieg
damit in den ersten Stock hoch und wurde von einer Stille
umhüllt, die zirka dreißig Gäste
produzierten - etwas, das es wahrscheinlich nur in einer japanischen
Großstadt geben kann, diese Art von Stille die vom diskreten
Soft-Bebop aus den Lautsprechern unterstrichen wurde."
Federmair erzählt von stürmischen und ruhigen
Flügen, Fahrten mit den Shinkansen, Aufenthalten in diversen
Tempeln und diversen Lokalbesuchen. Er schreibt über die Zeit
nach der verheerenden Katastrophe von Fukushima, über die
Sensationsgier der westlichen Nachrichtenmedien, die so angenehm weit
weg in ihren Redaktionen und Arbeitszimmern darauf hinarbeiteten, das
Leid der Menschen noch sensationeller aussehen zu lassen, als es
ohnehin bereits war. Er beschreibt einen Krankenhausaufenthalt seiner
Tochter und vergleicht aufgrund einer Taxifahrt die unterschiedlichen
Wahrnehmungen von Unwohlsein der Taxifahrer in Japan und Frankreich.
Zumindest aufgrund dieses einen Falls. Dass der Autor darauf basierend
generelle Überlegungen anstellt, ist äußert
interessant und belebt den Text noch zusätzlich.
Immer im Zentrum dieser Schilderungen finden sich auch
persönliche Kontakte zur Bevölkerung. Zumeist
zufällig, manchmal aber auch nicht. Der Autor weist auf die
Kleinigkeiten hin, in denen der große Unterschied liegt.
"Als wir schon im Sinkflug waren, ging ich zu einer Luke, um
einen Blick nach unten zu werfen. Eine Stewardess wies mich darauf
hin,
dass sich der Fujisan auf der
anderen Seite befinde. Dass ein Passagier etwas anderes sehen will als
den heiligen Berg, ist offenbar unüblich. Japaner sehen nur
das, was 'berühmt' ist. Alle sehen nur das, was
berühmt ist. Wir anderen, nous autres, sind die kleine
Minderheit, die Wahrnehmungselite. Tatsächlich erhaschte ich
noch einen Blick auf den Fujisan, den das Flugzeug bereits hinter sich
gelassen hatte. Die Stewardess war zufrieden, ich war zufrieden."
Leopold Federmair schreibt auch viel über die japanische
Literatur, von Osamu Dazai, Yasunari Kawabata - dessen hierzulande
nicht so beliebten Roman "Die rote Bande von Asakusa" er mit den
großen, modernistischen Großstadtromanen "Berlin
Alexanderplatz" und "Manhattan Transfer" vergleicht-, Junichiro
Tanizaki bis hin zu Kenzaburō Ōe, den der
österreichische
Autor zu einem Interview beim Nobelpreisträger zuhause
besuchen darf. Das ist zutiefst spannend und interessant, vor allem
auch, weil Federmair sich feine, humoristische Pointen
erfreulicherweise nicht verkneift.
Tangos und Milongas kommen naturgemäß vor, auch in
Japan ist der argentinische Tanz sehr beliebt.
Aus all diesen Momenten, die Federmair scheinbar beliebig
aneinanderreiht, ergibt sich dennoch bis zum Ende hin eine sehr
schlüssige Form und auch, selbst wenn das nicht beabsichtigt
war, eine Art gemeinsamer Nenner des Texts. Federmair zeigt durch die
divergierenden Situationen und Szenen auf, wie sehr sich die
Mentalität der Japaner
von jener der Anderen unterscheidet. Er
zeigt aber auch, und das ist das besonders Überraschende, wie
ähnlich wir einander dennoch sind. Dabei entpuppt sich
Federmair als jemand, der sehr wohl auch die japanischen Defizite
sieht, beginnend beim Schulwesen bis hin zur Tradition, die oftmals das
Menschliche im Keim zu ersticken droht.
"Tokyo Fragmente" bietet sehr viel. Japankenner werden sich
über Aha-Erlebnisse, unterschiedliche oder ähnliche
Meinungen freuen oder ärgern. Leser ohne Erfahrung mit Japan
werden sehr feinfühlig auf
eine
Reise nach Japan vorbereitet,
sofern sie darüber hinausgehen soll, was im üblichen
Touristenprogramm festgelegt ist. Dennoch ist dieses
Buch keine genretypische Reiselektüre. Eigentlich ist
es auch sehr schwierig, dieses Buch auf eine Sache zu reduzieren, weil
es so viel mehr ist. Und genau das macht es auch so besonders, zu einem
wirklichen Genuss. Selten ist literarisches Flanieren so wohltuend und
anregend, wie in diesem wundervollen Buch.
(Roland Freisitzer; 01/2019)
Leopold
Federmair: "Tokyo Fragmente"
Otto Müller, 2018. 397 Seiten.
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