Anna Enquist: "Denn es will Abend werden"
Flucht und Verdrängung
Anna Enquist ist eine der interessantesten Autorinnen der Niederlande.
Ihre Romane beschäftigen sich oft mit dem Thema Verlust, mit den Folgen
traumatischer Ereignisse und Verluste. Ebenso befassen sich die Romane
der studierten Konzertpianistin mit der Musik. So ist es nicht weiter
verwunderlich, dass "Denn es will Abend werden" beide Bereiche auf
beeindruckende Weise harmonisch miteinander verbindet.
Dieser Roman setzt offensichtlich da an, wo "Streichquartett" geendet
hat. Ein traumatisches Ereignis, eine Geiselnahme mit Bombenattentat auf
jenem Hausboot, wo die Freunde jahrelang miteinander Streichquartette
zur privaten Erbauung gespielt haben, wird zum Faktor, der nicht nur die
Gemeinschaft der Freunde zerstört, sondern auch ihre Beziehungen zur
Musik grundlegend infragestellt. Der Ort, an dem sie ihre Leiden und
Enttäuschungen mit
der Musik Mozarts und Schuberts
gelöst haben, existiert nicht mehr.
Es gibt Carolien, die Cellistin des Quartetts und Kinderärztin, die
nicht nur wegen des Verlusts eines Fingers nicht mehr Cello spielen
kann. Ihr Mann Jochem, ein Instrumentenbauer, verschanzt sich in seinem
neuen Atelier hinter paranoiden Sicherheitsvorkehrungen, die nicht nur
ihn, sondern auch die Ehe stark belasten. Carolien schafft es nicht,
ihre Ängste und den Verlust zu überwinden und kann so weder ihr Cello
spielen, noch wieder in ihren Beruf einsteigen. Einer Therapie
unterzieht sie sich dennoch nicht.
Hugo, der ehemalige Hausbootbesitzer und Geiger,
arbeitet inzwischen als Konzertmanager in China. Seine Ehe ist in die
Brüche gegangen, seine Tochter sieht er kaum noch. Diese Tochter hat
Angstzustände, die es ihr nicht einmal erlauben, Carolien, die für sie
so etwas wie eine Zweitmutter war, zu sehen. Carolien, die sich
schützend vor Hugos Tochter gestellt und so ihren Finger verloren hat.
Heleen hat ihr Leben auch umgekrempelt und will von ihren Freunden
nichts mehr wissen. Sie betätigt sich in einem Ertüchtigungsstudio und
hat der Musik und allem, was für sie in der Vergangenheit dazu gehört
hat, eine Absage erteilt.
Caroliens Lehrer, der berühmte Cellist van Aalst, liegt seit der
Explosion im Krankenhaus und ist de facto schon klinisch tot. Als er
stirbt, erhält Carolien sein berühmtes, unbezahlbar wertvolles Cello.
Ein weiterer Grund für Jochem, auch die Sicherheitsvorkehrungen im
eigenen Haus ad absurdum zu führen, wodurch sich Carolien dermaßen
eingeengt fühlt, dass sie die Flucht nach
China antritt. Sie reist zu Hugo, will einige Zeit mit etwas Neuem
verbringen. Ihre Ehe ist kein Trost, die Partner verspüren keine
Notwendigkeit mehr, ihre Ängste und Sorgen miteinander zu besprechen und
zu teilen.
In China erlebt Carolien eine neue Liebe, nicht mit ihrem langjährigen
Freund Hugo, sondern mit dem Kinderarzt Max, der in ihr neue
Lebensgeister weckt, bis sie bemerkt, wie gebrochen er selbst ist.
Anna Enquist leuchtet die Psyche ihrer Protagonisten fein aus, sie lässt
sie Mails und Briefe schreiben, löschen, nicht abschicken oder
doch abschicken. Sie nimmt uns in die Gedanken ihrer Figuren mit, die so
zum Leben erwachen. Man fiebert mit, leidet und ist bemüht, die
teilweise unverständlichen Handlungen der Figuren zu begreifen. Erst die
Ladung zum Gerichtsverfahren wird zum Wendepunkt, der alle Beteiligten
zwingt, über den eigenen Schatten zu springen.
Nicht ganz eindeutig geht aus diesem zwar eigenständigen, aber doch mit
"Streichquartett" verbundenen Roman hervor, wieso ein geflüchteter
Mörder sich unbedingt Hugos Hausboot, wo an diesem Abend eine
Geburtstagsfeier stattfindet, aussucht. Ebensowenig ist klar, wieso sich
Heleen daran irgendwie schuldig fühlt, und wieso es schlussendlich zur
Explosion gekommen ist. Vielleicht wäre es wichtig, "Streichquartett"
vor "Denn es will Abend werden" zu lesen, einfach weil sich dadurch
höchstwahrscheinlich Blankostellen, die zu nicht nachvollziehbaren
Logikmängeln führen, vermeiden ließen. Nichtsdestotrotz ist "Denn es
will Abend werden" ein wundervoll melancholischer Roman, der fast auf
voller Länge überzeugt.
Leider haben sich in diesen Roman einige eher störende
Übersetzungsfehler eingeschlichen, die im Bereich der musikalischen
Begriffe angesiedelt sind. Ein "Streicherquartett" oder ein
"Streichertrio" existiert so nicht, und ein Konzert, das nur von
Streichern gespielt wird, ist definitiv kein Streichkonzert ... Das sind
Begriffe, die im Original sicherlich (vor allem, wenn man Anna Enquists
Vergangenheit als professionelle Musikerin kennt) korrekt verwendet
wurden. Die in der deutschsprachigen Version verwendeten Begriffe
scheinen wortwörtliche Übersetzungen zu sein, welche den Sprachgebrauch
nicht beachten.
"Denn es will Abend werden" ist ein nach Meinung des Rezensenten sehr
empfehlenswerter Roman, der zum Nachdenken anregt.
(Roland Freisitzer; 07/2019)
Anna
Enquist: "Denn es will Abend werden"
(Originaltitel "Want de avond")
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Luchterhand Literaturverlag, 2019. 284 Seiten.
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