György Dragomán: "Löwenchor"
Novellen
Zwischen Besessenheit und Verwandlung
"Mama, kann es sein, dass die Musik mein Vater ist?"
Als Novellen werden heutzutage eher Kurzromane bezeichnet. Bei dem vorliegenden Sammelband von György Dragomán, 1973 geborener ungarischsprachiger Schriftsteller aus Siebenbürgen, der 2005 mit seinem Roman "Der weiße König" einen großen Erfolg landen konnte, besteht der Unterschied der hier vorliegenden Texte zur Gattung Kurzgeschichte am ehesten darin, dass sich diese Geschichten meist über einen längeren Zeitraum erstrecken und das Durchdringen, Überlagern unterschiedlicher Ebenen geradezu zum ästhetischen Konzept gehört.
Dennoch bieten die jeweils fünf bis fünfzehn Seiten dem Autor ausreichend Raum, das ihm Wichtige erzählerisch stimmig vorzubereiten und schließlich zum Ausdruck zu bringen, den Einbruch einer anderen, stärkeren Kraft und damit einhergehend eine größere Wahrhaftigkeit in die sogenannte alltägliche Wirklichkeit, all das verbunden mit der Ahnung einer anderen Dimension, wie sie in Leidenschaft, Hingabe oder Trance erfahrbar wird.
Solches ereignet sich in "Löwenchor" manchmal beim Kinderspiel (Kinderseelen erleben ja insgesamt tiefer und unmittelbarer), manchmal beim Tod oder dem sonstigen Verlust eines nahestehenden Menschen, bei den so unterschiedlich getönten Erinnerungen an den Verlorenen, der Einsichtnahme in seine Reliquien. Das zeitenübergreifende, sich manchmal geradezu aufdrängende Wesen der Erinnerung übt auf den Autor überhaupt eine besondere Anziehungskraft aus, wirkt jedoch nicht überall so harmlos wie beim Schlürfen einer schwedischen Fischsuppe, mit deren salzigem Wohlgeschmack bereits zahlreiche intensive Erfahrungen assoziiert werden, ein Fluch (um ein drastisches Negativbeispiel zu erwähnen) lebt ebenfalls davon.
Meist ist der Auslöser bzw. das Mittel für besondere Erfahrungen die Kunst. Ganz besonders die Musik spielt in den allermeisten der hier versammelten Geschichten eine prominente Rolle, sei es, dass in der von ihr hervorgerufenen Stimmung die handelnden Personen buchstäblich auf andere Wellenlängen geraten, sei es, dass ein einzelnes Musikstück aufgrund der Umstände mit übergroßer Bedeutung aufgeladen wurde (ein Lied, das die verschiedensten Lebensstationen einer Sängerin getreu begleitet, oder etwa der einer in Ungarn lebenden Lateinamerikanerin äußerst nützlich werdende Lieblingstango ihres Vaters), oder seien es die radikalen Veränderungen, wenn nicht sogar Verwandlungen, die das Musikvirtuosentum mit sich bringen kann.
Als Nebenthema blitzt immer wieder Kritik an der postsozialistischen ungarischen Gesellschaft auf ("Entscheidend ist, dass sie dafür keine Erlaubnis haben"), außerdem merkt man, dass der Autor zu den Fehlentwicklungen in Rumänien viel mehr zu sagen hätte, als er in diesem Buch die Absicht hat.
Und da zum Anderen schließlich auch das Unabsehbare gehört, kommt es in "Löwenchor" immer wieder zu allerhand unerwarteten Wendungen (etwa, wenn schwarze Pädagogik nicht zum erwarteten großen Unglück, sondern zu neuen Sternen führt) und Schlusspointen, welche die bisher bestimmenden Sichtweisen und Einschätzungen noch einmal gründlich ducheinanderwirbeln und dabei auch die Lektüre spannender (was man so spannend heißt) gestalten.
(fritz; 03/2019)
György
Dragomán: "Löwenchor. Novellen"
(Originaltitel "Oroszlánkórus. Novellák")
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó und Terézia Mora.
Suhrkamp, 2019. 240 Seiten.
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