Radka Denemarková: "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude"


Das vergewaltigte Jahrhundert

Radka Denemarkovás eindringlicher Roman, der in den Jahren 2012 und 2013 geschrieben und anno 2014 in der Originalsprache veröffentlicht wurde, ist in gewisser Weise ein Wunderding. Die Entstehungszeit ist ein nicht unwesentlicher Faktor, da der Roman mit dem bewusst irreführenden Titel "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" vor der "#metoo"-Bewegung geschrieben und veröffentlicht wurde. Während der Lektüre merkt man daher, wie vorausschauend, um Aufmerksamkeit buhlend dieser Text komponiert ist. Er setzt sich nämlich auf ganzer Linie mit der sexuellen Gewalt gegen Frauen auseinander.

Virtuos lenkt Denemarková den Leser auf falsche Fährten. Zu Beginn wird ein Kriminalkomissar in ein Haus 
in Prag gerufen. Ein erfolgreicher Prager Geschäftsmann, Ende sechzig, soll auf seinem Dachboden mit dem Strick Selbstmord verübt haben. Alles deutet auf Selbstmord hin. Nichtsdestotrotz will der Ermittler alle Zweifel ausschließen, vielleicht aber auch einfach mehr Zeit mit der reizenden Witwe verbringen dürfen, er ist sich dessen auch nicht wirklich sicher. Laut Witwe hatte ihr verschiedener Gatte keine Feinde. Allerdings häufen sich bald die Indizien, dass der Geschäftsmann Frauen in seiner Firma sexuell belästigt haben soll. Der Ermittler stößt auch auf die bekannte Schriftstellerin Birgit Stadtherrová, in deren Schreibkurs der nunmehr tote Geschäftsmann aber die Kunst des Schreibens lernen hatte wollen. Stadtherrovás Bücher, die oberflächlich von Politikern, Päpsten und allen möglichen Herrschern handeln, beschäftigen sich in Wahrheit mit der Geschichte männlicher Dominanz. Gemeinsam mit zwei Freundinnen betreibt sie in ihrem Prager Domizil ein Archiv, das minutiös Gewalt gegen Frauen dokumentiert.
"Der Ermittler verhört Verwandte und Freunde des Mannes, rekonstruiert die letzten Tage eines fremden Lebens. Der Erhängte hielt die Zügel seines Lebens fest in der Hand, saß selbstbewusst im Sattel. Bis auf den kleinen Fleck auf der Weste, den die Polizei ja weggeschrubbt hat. Ein paar ehemalige Sekretärinnen zeigten ihn an. Eine von ihnen hatte sich bereits vor Jahren an die Polizei gewandt, aber damals verlief alles im Nichts, die Sache wurde vertuscht, der Mann verfügte über unerschütterliche Kontakte, jagte der Frau Angst ein."

Der Ermittler nähert sich langsam dem Kern der Sache, dringt unbefugt in die Wohnung Stadtherrovás ein und stößt dabei auf das umfassende Archiv. Schicht für Schicht deckt er auf, stellt Zusammenhänge her und wird so zum aktiven Erzähler dieses hochliterarischen Romans. Hartgesottene Krimileser werden zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich längst die weiße Fahne gehisst haben. "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" ist nämlich, trotz des kriminalistischen Hintergrunds, wahrlich kein Kriminalroman.

Denemarkovás glanzvoll komponierter Roman besticht durch vielschichtige Perspektiven und bestechend genau gewählte Bilder. Beispielsweise nähert sie sich zu Beginn aus der Vogelperspektive, was sie dazu nutzt, die Geschichte von Schwalben, die Beiträge zur Geschichte der Freude sammeln würden, einzubauen. Die Aufteilung von Freude zwischen Männern und Frauen ist allerdings sehr ungleich gewichtet, bei Frauen ist es das Schlachtfeld, das befreit von jeglichen Friedenszeiten ist. Danach wechselt der Roman die Perspektive und bohrt direkt in das Leid, das so viele Frauen erdulden müssen. Ein Leid, das von Unterdrückung, Missachtung, mangelnder Wahrnehmung bis hin zur physischen, durch Männer verübten Gewalt reicht. Immer wieder werden Eigenschaften von Vögeln für Bilder zu menschlichen Verhaltensmustern herangezogen: treuebesessene Schwalben, ordnungsliebende Buchfinken oder eher freizügigere Eisvögel. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.

"Der Ermittler eilt in den Neubau am Stadtrand. Er will die Witwe sehen und er will sie hören. Sie anzufassen traut er sich nicht. Sie kochen gemeinsam. Zum Herbst gehören Kartoffelpuffer. Das kennen sie beide aus ihrer Kindheit."

Die Prosa Denemarkovás ist ebenso genau ausgehört und perfekt komponiert wie die erzähltechnische Struktur des Romans. Das macht "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" zu einem großartigen Leseerlebnis, das, auch wenn es vielleicht aufgrund der bisherigen Beschreibung anders anmutet, genug Raum für erzählerische Finessen bietet. Ein "feministisches Pamphlet" oder gar ein "politisch motivierter Aufschrei" ist der Roman nämlich in keiner Weise. Schon allein die sich langsam anbahnenden Gefühle des Ermittlers für die Witwe des gar nicht suizidalen Geschäftsmannes sind ein wahrer literarischer Leckerbissen, auch wenn der Ermittler per se ein fast klischeehaftes Beispiel für männliche Dominanz darstellt. Allerdings ist hier Hoffnung gegeben, weil seine Perspektive fast ein kleiner Entwicklungsroman im Roman ist. Jene Passagen, in denen Gefühlen Raum gegeben wird, gehören sicherlich zu den Höhepunkten dieses außergewöhnlichen Romans.
"Das Gedächtnis eines tausendjährigen Körpers irrt nicht, und der eigene Körper schwingt sofort in einer anderen Sprache, in seiner eigenen Sprache, ein einmal missbrauchter Körper auf der ganzen Welt, er will ihm Erleichterung verschaffen, seine eigenen Erinnerungen abschütteln, aber solange irgendwo unter der Sonne oder unter dem Mond das Gleiche vor sich geht, gelingt ihm das nicht. Die Schwalben nicken fröhlich mit den Köpfchen."

Weitere Erzählstränge gibt es genug, die drei Damen des Archivs sind nämlich unbeirrt umtriebig und arbeiten ihre erstellte Liste ab, mit allen Verirrungen, Grübeleien und Diskursen, die einen derartigen Rachefeldzug auf moralischer Ebene begleiten müssen.

Von Eva Profousová kongenial übersetzt, ist dieser Roman ein literarischer Höhepunkt des Jahres 2019 und unbedingt empfehlenswert. Vor allem, aber definitiv nicht nur, für Männer.

(Roland Freisitzer; 04/2019)


Radka Denemarková: "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude"
(Originaltitel "Príspevek k dejinám radosti")
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Hoffmann und Campe, 2019. 333 Seiten.
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Radka Denemarková, geboren 1968, ist eine tschechische Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur und lehrt Kreatives Schreiben.