Leonardo da Vinci: "Der Esel auf dem Eis"
Miniaturen
Das
kleine Büchlein mit Miniaturen und Zeichnungen des
Universalgenies Leonardo da Vinci vermittelt einen Eindruck davon, wie
er gedacht, die Dinge gesehen, beobachtet hat. Fabeln sind dadurch
gekennzeichnet, dass Tiere reden. Doch es können ebenso Papier
und Tinte oder ein Rasiermesser sein, die sich zu Wort melden. Der
Schriftsteller Leonardo da Vinci dringt in belebte und unbelebte Welten
ein und ermöglicht es, dass der Leser aus der Perspektive
eines Schwans, einer Kletterpflanze, eines Esels oder auch eines
Blattes Papier
die Welt sieht. Jede Welt ist eine Welt für
sich. Für eine Ameise ist die Welt ganz anders, als wir
Menschen uns das auch nur andenken können. Und genau dies ist
die Meisterschaft der Miniaturen, mit der wir sozusagen durch die
Brille von Leonardo da Vinci vertraut gemacht werden: Wir leben mit den
Tieren und Pflanzen mit, und wenn wir eine Lehre daraus ziehen wollen,
dann diejenige, dass der Mensch mit der Natur behutsam umgehen soll.
Eine Einsicht, bei der allerdings gerade Menschen mit viel
Verantwortung gerne Ohren, Augen und Herzen verschließen.
"Der Schwan
Der Schwan neigte den biegsamen Hals aufs Wasser und spiegelte sich
lange. Da begriff er die Ursache seiner Müdigkeit und dieser
Kälte, die seinen Körper wie mit Zangen griff und
zittern machte wie im Winter: Mit absoluter Gewissheit wusste er, dass
seine Stunde geschlagen hatte und dass er zum Sterben bereit sein
musste.
Seine Federn waren noch weiß wie am ersten Tag seines Lebens.
Er hatte Jahre und Jahreszeiten durchmessen, ohne sein unbeflecktes
Kleid zu beschmutzen. Jetzt konnte er Abschied nehmen und sein Leben
in
Schönheit beschließen. Den schönen Hals
hebend, steuerte er langsam, fast feierlich unter einer Trauerweide,
wo
er an heißen Tagen zu ruhen pflegte. Es war schon Abend. Der
Sonnenuntergang verfärbte das Seewasser purpurn und violett.
Und in dem großen Schweigen, das sich auf alles niedersenkte,
begann der Schwan zu singen. Niemals zuvor hatte er Töne so
voller Liebe für alle Natur, für die
Schönheit des Himmels, des Wassers und der Erde gefunden. Sein
süßester Gesang verschwebte in der Luft, von
Schwermut umflort, bis er sich leise, leise verlor, eins mit dem
letzten Licht des Horizontes. 'Es ist der Schwan', sagten bewegt die
Fische, die Vögel, alle Tiere des Waldes und der Wiesen, 'es
ist der Schwan, der stirbt'."
Die Miniaturen sprechen für sich selbst. Es ist wie bei einem
Bild, das auch mit tausend Worten und mehr nicht beschrieben werden
kann. Wenn ein meisterhafter Maler wie Leonardo da Vinci schrieb, dann
war es ihm wohl ein Bedürfnis, zu beschreiben, was sein
inneres Auge sah. Und daran lässt sich ermessen, wie seine
Verbindung zur Welt gewesen sein mag, nämlich unermesslich.
Wie schreibt Rudolf Hagelstange so treffend in seinem Nachwort: "Denn
Leonardo
verbindet den kühlen messenden und wägenden
Verstand mit dem fühlenden Herzen, das Sympathie ebenso
empfindet wie weckt. Ein unerschütterlicher Glaube an den
Auftrag des Menschen ist ihm mitgegeben."
Wer sich mit Leonardo da Vinci beschäftigt, dessen 500.
Todestag heuer Anlass gibt, auch dieses wunderbare Buch neu aufzulegen,
der wird sich seiner eigenen Grenzen voll und ganz bewusst. Es gab und
gibt sie, die Genies, deren Fähigkeiten nur Bewunderung und
Staunen hervorrufen können. Nicht wenige Zeitgenossen
heutzutage bezweifeln, dass es überhaupt Genies gegeben hat
oder vielleicht sogar noch gibt. Der Begriff "Genie" wird gerade von
Künstlern oft abgelehnt, er sei einfach nicht mehr
zeitgemäß. Aber wie sollte etwa Leonardo da Vinci
sonst bezeichnet werden, der neben seinen künstlerischen
Qualitäten die Hilfsgeräte des Menschen, von der Lupe
bis zur Bohrmaschine, vom Panzerwagen bis zu Helikopter und Flugzeug
erkennen und voraus entwerfen konnte?
Diese Miniaturen geben Zeugnis davon, wie mit nur wenigen Worten
Geschichten erzählt werden, die den Tieren die Würde
zurück geben, die ihnen der Mensch wohl auch schon zu Zeiten
von Leonardo zu nehmen auserkoren schien. Gerade auch deswegen, weil
die Tiere in gewissem Sinne "vermenschlicht" sind.
Schaffen wir das Genie nicht ab, und würdigen wir die
Miniaturen, die Leonardo uns hinterlassen hat.
(Jürgen Heimlich; 02/2019)
Leonardo
da Vinci: "Der Esel auf dem Eis. Miniaturen"
(Originaltitel "Favole e Leggende. Animali Fantastici")
Aus dem Italienischen von Rudolf Hagelstange.
Unionsverlag, 2019. 112 Seiten.
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Der berühmte russische Symbolist Dmitri Mereschkowski hat aus
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Lebensroman Leonardos geschrieben. In leuchtenden Farben
ergründet er den Menschen hinter dem Mythos und sein Wirken in
einer Zeit, in der Weltbilder ins Wanken geraten. (Unionsverlag)
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Walter
Isaacson:
"Leonardo da Vinci. Die Biografie"
Unehelich, Vegetarier, homosexuell, Linkshänder, leicht
ablenkbar und durchaus ketzerisch - Leonardo da Vinci verlangte der
Gesellschaft des 15. und 16 Jahrhunderts so manches ab. Und er gab
viel
zurück. Er schälte das Fleisch von Schädeln,
um die Gesichtsphysiognomie zu erkunden, zeichnete die Muskulatur der
Lippen nach - und malte erst dann das einzigartige Lächeln der
Mona Lisa! Er studierte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen -
und schaffte dadurch die wechselnden Perspektiven in seinem
Gemälde "Das Abendmahl". Leonardos lebenslanger Enthusiasmus,
Grenzen zu überschreiten, faszinierte bereits die
einflussreichen Familien in Florenz und Mailand und gilt bis heute als
wegweisendes Rezept für Kreativität und Innovationen.
Walter Isaacson erzählt Leonardos Leben in völlig
neuer Manier, indem er dessen künstlerisches und
wissenschaftliches Wirken zueinander in Bezug setzt. Er zeigt dabei
auf, dass Leonardos Genialität auf Fähigkeiten
basierte, die jeder von uns in sich trägt und stärken
kann: etwa leidenschaftliche Neugier, aufmerksame Beobachtung oder
spielerische Einbildungskraft. Leonardo erinnert uns bis heute daran,
wie wichtig es ist, nicht nur ständig neues Wissen zu
erlangen, sondern dieses auch immer wieder zu hinterfragen, der
Fantasie freien Raum zu lassen und abseits festgelegter Muster zu
denken - so wie alle großen Geister der Weltgeschichte.
(Propyläen)
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Kia
Vahland: "Leonardo
da Vinci und die Frauen. Eine Künstlerbiografie"
Mit seinen Geistesblitzen, Visionen, Maschinenträumen,
anatomischen Studien gilt Leonardo da Vinci als Vordenker der Moderne.
Das Wichtigste aber war dem Universalgenie und Schöpfer der
legendären "Mona Lisa" die Malerei, die er zum Leitmedium
seiner Epoche machte. Kia Vahland zeigt in einer umfassenden
Künstlerbiografie, wie ihm das gelang: Er verbündete
sich mit den Frauen. Von der stolzen jungen Maria bis zur weisen Mona
Lisa, von der dynamischen "Dame mit dem Hermelin" bis zur
gütigen Heiligen Anna sind sie die Hauptfiguren seiner
Gemälde. Um das Weibliche kreisen seine wegweisenden Ideen zur
Naturgeschichte, zur Schöpfung und zur Kunst.
Leonardo da Vinci malte Frauen, wie die Welt sie noch nicht kannte:
als
selbstbewusste, zugewandte Wesen mit komplexer Persönlichkeit;
er feierte ihren Eigensinn, ihren Verstand, ihre Emotionalität
und ihre Sinnlichkeit - und erfand so gemeinsam mit seinen Modellen
die
moderne Frau als ebenbürtiges Gegenüber des Mannes.
Anhand von Leonardos Bildern, Texten und anderen historischen Quellen
schildert Kia Vahland den Lebensweg und das gesamte malerische OEuvre
des Jahrtausendkünstlers. Sie erzählt die Geschichten
der bedeutenden Persönlichkeiten in seiner Nähe wie
Isabella d'Este und Lorenzo
de' Medici und berichtet vom Alltagsleben
und den politischen Verflechtungen der Renaissance. Die Biografie
erklärt, wie der Maler Konventionen brach und so eine neue
Sicht auf Natur und Kunst, Frauen und Männer, Wissenschaft,
Religion und Politik entwickelte - und damit seinen Ruhm und seine
Bedeutung bis heute begründete. (Insel)
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Alessandro Vezzosi: "Leonardo da Vinci.
Die Gemälde. Das komplette Werk"
Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und
Philosoph - all diese Fähigkeiten vereinte Leonardo da Vinci
in seiner Person und gilt damit als der erste Universalgelehrte der
Menschheit. Seine "Mona
Lisa" fasziniert auch mehr als 500 Jahre nach
ihrem Entstehen unzählige Menschen durch ihr
rätselhaftes Lächeln. Allein die Zuschreibung des
"Salvator Mundi" an ihn oder einen seiner Schüler machte
dieses Werk zum teuersten jemals gehandelten Gemälde der Welt.
Autor ist mit Alessandro Vezzosi ein ausgewiesener Kenner des
OEuvres
und der Zeit Leonardos, der mit diesem Band eine sorgfältig
erarbeitete Biografie, die mit manchen Irrtümern und Mythen
aufräumt, sowie ein komplett überarbeitetes
Verzeichnis aller Gemälde vorlegt, inklusive aller aktuellen
Zu- und Abschreibungen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Betrachtung
liegt in der Beschreibung von Leonardos künstlerischer
Arbeitsweise, seiner Werkstattorganisation sowie einem detaillierten
Blick auf die einzelnen Gemälde. (Prestel)
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Peter O. Chotjewitz: "Alles über Leonardo aus Vinci" zur Rezension ...
Bernd Roeck: "Leonardo. Der Mann, der
alles wissen wollte"
Maler,
Architekt, Forscher, Erfinder, Literat und Gelehrter: Niemand
hat das Ideal der Renaissance vom "uomo universale", vom universalen
Menschen, glänzender verkörpert als Leonardo da
Vinci. In seiner mitreißend geschriebenen Biographie folgt
Bernd Roeck Leonardo durch das Italien der Renaissance und durch den
geistigen Kosmos dieser Epoche, dessen Grenzen er immer wieder
durchbrach.
Leonardo war ein Besessener, der Wunderwerke hinterließ und
eine unendliche Fülle von Ideen. Sie haben die Fantasie der
Nachwelt blühen und die Spekulationen wuchern lassen. Bernd
Roeck unterzieht die Quellen einer strengen Prüfung, um
offenzulegen, was wir wirklich von dem Künstler wissen
können - und was nicht. Roecks Leser speisen mit Leonardo
vegetarische Gerichte und begleiten ihn nach Venedig, Rom und an die
Loire. In seiner Mailänder Werkstatt sehen sie ihm beim Malen
mit Pinseln aus Eichhörnchenhaar zu. Sie erfahren von den
Netzwerken, die Leonardos steile Karriere beförderten, und von
den politischen Wirren, durch die er sich lavierte. Vor allem aber
können sie die kreativen Prozesse verfolgen, in denen
Leonardos einzigartige Kunst entstand. (C.H. Beck)
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