Kenah Cusanit: "Babel"
Blinddarmbeschwerden
vor dem Hintergrund von Ausgrabungen, Bürokratie, Diplomatie
und kultureller sowie historischer Wirren
"Sich bewegen. Das war keine Empfehlung Liebermeisters bei
Appendizitis. Es war Koldeweys neuestes Experiment, ein Versuch,
mehreren Problemen parallel aus dem Weg zu gehen." (S. 112)
Man schreibt das Jahr 1913, zwischen den mächtigsten Staaten
Europas tobt längst der Wettkampf um spektakuläre
antike Kulturschätze, der Erste Weltkrieg liegt in der Luft,
und der im Reich des orientbegeisterten deutschen Kaisers Wilhelm
II. berühmte bibelfeste Architekt und
Archäologe Robert Koldewey (10.9.1855-4.2.1925) hat
kürzlich die Fundamente des Turms zu Babel entdeckt.
"Koldewey, der ursprünglich ein humorvoller und
lebenslustiger Mann gewesen war, wurde durch sein kompromissloses
Ausgräberleben in mancher Hinsicht etwas wunderlich, und er
war gewiss auch ein schwieriger Chef und Verhandlungspartner. Die
Akten
der DOG bezeugen manche Auseinandersetzungen zwischen ihm, leitenden
Mitgliedern der DOG sowie der deutschen Botschaft in Istanbul. (...)"
- so die "Deutsche Orient-Gesellschaft" auf ihrer Netzpräsenz
über die historische Figur.
Der Romanerstling der 1979 geborenen Altorientalistin und Ethnologin
Kenah Cusanit ist ein durch und durch beschaulicher, mitunter geradezu
hartnäckig lexikalisches Wissen vermittelnder Text in
gediegener Sprache. In der ersten Hälfte präsentiert
sich der grübelnde, gesundheitlich angeschlagene
Grabungsleiter Koldewey dem Leser in seiner Unterkunft, wobei die
Außenwelt nur in Gestalt von unwillkommenen Besuchern,
Blicken aus dem Fenster und Erinnerungen in Erscheinung tritt.
"Babel" ist somit
die ideale Lektüre
für geduldige Leser mit Freude an detailreichen, sich
bedächtig entfaltenden Gedankengängen und
wissenschaftlich angehauchten Schilderungen sowie Interesse an
gelehrten Welterklärern und mit gehöriger Abneigung
gegenüber jeglichem Fortschrittsirrwitz wie auch
nervenaufreibenden Handlungsverläufen, ergo ein vorbildliches
Wahrzeichen moderner zeitkritischer Entschleunigung und daher
wohl
völlig zu Recht für den "Preis der Leipziger
Buchmesse 2019" nominiert. |
"Es war ein
mesopotamisches Gelb. Wie
gemacht zum Davorstehen, Hinsehen, Aquarellieren - seine
Lieblingsart,
diese Gegend zu kartieren. Schlamm als Impression, Lehm, der
sich durch
das Wasser bewegte, indem er sich drehte. |
Endlich, nach der gemächlich dahinplätschernden
ersten Romanhälfte, in der man z.B. allerlei essayistische
Gedanken des Grabungsleiters zu Themen wie Wissenschaft und Religion,
zu gemeinsamen Wurzeln von Ursprungsmythen, Übersetzungs- und
Interpretationsproblemen, zu Mentalitätsunterschieden und
deren allfälliger Nützlichkeit, Begegnungen mit
Einheimischen, zu endlosen Verhandlungen an Ort und Stelle, lokalen
Sitten und Gebräuchen sowie ermattenden amtlichen und privaten
Korrespondenzen zwischen Berlin und dem Orient sowie
Scharmützel mit missliebigen Assistenten und rivalisierenden
Kollegen aufgetischt bekommt, während Koldewey auch wiederholt
Liebermeisters "Grundriss der inneren Medizin" studiert, leidet er doch
allem Anschein nach an einer Blinddarmentzündung, endlich also
verlässt Cusanits Projektionsprotagonist sein
Krankenzimmerbüro und begibt sich ins Freie, wodurch
dankenswerterweise zumindest hinsichtlich des Schauplatzes eine
hochwillkommene Veränderung eintritt.
Während er gedankenversunken die Ruinenstadt am
Euphrat
durchschreitet, sinniert Koldewey anhand seines Taschenkalenders u. A.
über Grabungsfortschritte, großartige Funde,
Unterschiede zwischen Theorie und Praxis, diverse Listen, über
Philologen, das zwischenzeitlich modernisierte Berlin, über
zeitgenössische Stadtarchitektur, Fotografie und Film, Reklame
und Mode. Er stellt Reflexionen über ein
fahruntüchtiges Boot und briefliche Reparaturanleitungen an,
(was dem Leser erneut seitenlang wiedergegebene Korrespondenz
beschert), schließlich erinnert er sich an seine
kommunikationstechnisch nicht optimal verlaufene Audienz beim Kaiser.
s
Somit gibt auch der zweite Teil des Romans durchgehend die Gedanken und
Assoziationen des Protagonisten wieder, sei es zum Codex Hammurabi,
zur einstigen Polarexpedition seines Onkels oder zu landschaftlichen
Eindrücken, während er zu einem (im Roman allerdings
nicht mehr beschriebenen) Treffen mit der britischen Gelehrten,
Diplomatin, Spionin und Forschungsreisenden Gertrude Bell unterwegs ist
und sich der Blinddarm allem Anschein nach beruhigt hat -
Rizinusöl sei Dank.
Kenah Cusanits "Babel" widmet sich beflissen der Person des Johannes
Gustav Eduard Robert Koldewey und der Art, wie dieser Mensch die Welt
vielleicht gesehen haben mag. Der Autorin ist wegen ihres
Rechercheaufwands und ihrer seriösen Schreibarbeit Respekt zu
zollen, das Resultat ihrer Bemühungen ist weder ein
Abenteuerroman noch eine Romanbiografie, sondern ein kontemplatives
literarisches Mosaik aus zahllosen Gedankensplittern, mit Sicherheit
der verdiente "Babelnabel" des Jahres 2019!
(Felix Grabuschnig; 02/2019)
Kenah
Cusanit: "Babel"
Hanser, 2019. 272 Seiten.
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Zur Netzpräsenz der "Deutschen Orient-Gesellschaft" ...
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Buchtipps:
Robert Koldewey: "Das wieder erstehende Babylon. Die bisherigen
Ergebnisse der deutschen Ausgrabungen"
Robert Koldewey, Architekt und Bauforscher und einer der bedeutendsten
deutschen Vertreter der vorderasiatischen Archäologie, gilt
als einer der Begründer der modernen archäologischen
Bauforschung. Im vorliegenden Werk gibt er einen anschaulichen Bericht
von den Ausgrabungen Babylons, die im März 1899 begannen und
erst 1917 endeten. Nachdruck der zweiten Auflage aus dem Jahr 1913.
(Literaricon)
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Ursula
Quatember, Hansgeorg Bankel (Hrsg.): "Post aus Babylon.
Robert Koldewey, Bauforscher und Ausgräber. Briefe aus
Kleinasien, Italien, Deutschland und dem Vorderen Orient von 1882 bis
1922"
Robert Koldewey erlangte Bekanntheit als Ausgräber von
Babylon, einer der wichtigsten Ruinenstätten des Altertums,
berühmt für den biblischen "Turm zu Babel" und die
Prozessionsstraße mit dem Ischtar-Tor, deren Rekonstruktionen
sich heute im Vorderasiatischen Museum in Berlin befindet. Aber nicht
nur der Vordere Orient, sondern auch das an der kleinasiatischen
Westküste gelegene Assos und die griechischen Tempel
Unteritaliens und Siziliens gehörten zu den Forschungsgebieten
Koldeweys.
Der ausgebildete Architekt Koldewey gilt als einer der
Begründer der "archäologischen Bauforschung", die als
wissenschaftliche Methode das Bauwerk selbst in den Mittelpunkt ihrer
Untersuchung stellt und es als historische Quelle dokumentiert und
erforscht.
Die neu gelesene und kommentierte Auswahl seiner Korrespondenz mit
Freunden und Kollegen sowie einige andere kurze Texte aus seiner Feder
geben sowohl Einblick in das Leben und die
Persönlichkeit dieses bedeutenden Wissenschaftlers als auch in
den deutschen Wissenschaftsbetrieb in den Jahren zwischen 1882 und
1922. Da Koldewey nicht nur ein außerordentlich talentierter
Zeichner,
sondern auch ein begabter Schreiber sowie eine humorvolle,
interessante und mitunter auch etwas schrullige Persönlichkeit
war, bereitet das Lesen seiner Briefe nicht nur in Fachkreisen
großes Vergnügen.
Die Briefe sind nach den einzelnen Stationen von Robert Koldeweys Leben
untergliedert und von Johannes Althoff, Olaf Matthes, Dieter Mertens,
Hartmut Olbrich, Klaus Rheidt und Dorothée Sack mit
einleitenden Texten versehen, durch die auch das Nachwirken Koldeweys
für Bauforschung und Archäologie beleuchtet wird.
(Phoibos)
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Janet
Wallach: "Königin der Wüste. Das
außergewöhnliche Leben der Gertrude Bell"
Gertrude Bell, die ungekrönte Königin des Orients,
war eine der interessantesten, vielseitigsten und beeindruckendsten
Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eigenwillig, wissbegierig und
wagemutig bereiste die Tochter wohlhabender Engländer die
arabische Welt und wurde bald zu einer gefragten Nahostexpertin. Im
Ersten Weltkrieg bestinformierte britische Agentin im arabischen Raum
und Vorkämpferin für die arabische
Unabhängigkeit, hatte sie unter Anderem großen
Anteil an der Gründung des modernen Irak. (Goldmann)
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