Simon Carmiggelt: "Auf ein Gläschen"

Kneipengeschichten


Simon Carmiggelt war ein Phänomen. Er wurde am 7. Oktober 1913 in Den Haag geboren, kannte Erich Kästner persönlich, mag sich in seinem Schreiben an Tucholsky und Polgar orientiert haben. Er schrieb im Laufe seines Lebens etwa 11.000 Geschichten. Wie berichtet wird, eine pro Tag und dies über Jahrzehnte hinweg. Die Geschichten wurden in der Tageszeitung "Het Parool" veröffentlicht und gelten als "Kronkels" oder "Cursiefies". In den 1970er- und 1980er-Jahren war sein Bekanntheitsgrad in den Niederlanden sehr hoch. Er hatte eine Fernsehsendung und las in dieser eigene Geschichten vor. Zeitgenossen bestätigen, dass sehr viele Menschen diese Sendung angeschaut haben.

Was hat es mit diesen Geschichten auf sich, von denen erstmals in deutscher Übersetzung - ursprünglich veröffentlicht wurden die in diesem Band vorliegenden anno 1969! - eine kleine Anzahl zu lesen sind? Es ist die Originalität, die staunen lässt. Der Autor hat sich inspirieren lassen. Er hat selbst gerne Kneipen besucht und war überhaupt gerne in seiner Heimatstadt Amsterdam unterwegs. Inwieweit die Geschichten einen Wahrheitsgehalt haben, lässt sich nicht belegen. Wer sie aber liest, kommt nicht umhin, einen Wahrheitsgehalt anzunehmen. Die eingefangene Atmosphäre spricht für sich, erzeugt Bilder im Kopf des Lesers, die Vergnügen, Erstaunen oder auch Betroffenheit hervorrufen.

"Denn ein Trinker hat mehr zu tun, als man glaubt. Er ist dauernd auf dem Weg zu einem Platz, an dem ihn vollkommenes Wohlbehagen erwartet. Manchmal sehe ich den Mann in einer Kneipe am Fenster sitzen und heiter auf ein Boot in der Gracht schauen, das gerade entladen wird. Es geht ihm gut. Ein andermal marschiert er militärischen Schrittes über die Geldersekade, äußerst zielgerichtet und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, die, in beständiger Bewegung, augenscheinlich amüsante Dinge erzählen. Er ist dann sehr glücklich. Ich habe ihn auch schon mal ganz allein in einer teuren Bar gefunden, wo eine Flasche im Kühler auf dem Tisch stand und er hingerissen einer mittelmäßigen Kapelle zuhörte."

Simon Carmiggelt erzählt von gestrandeten Existenzen, von Außenseitern, Menschen in Ausnahmesituationen. Er berichtet davon, wie der Tod in den Kneipen auftritt, wie Verzweifelte Selbstmord begehen und Frauen Abend für Abend nach ihren Männern suchen, um sie von der Kneipe nach Hause zu bringen. Dies erzählt er in einem leichtfüßigen Ton, die traurigsten Geschehnisse werden dadurch relativiert, und das Leben geht stets weiter, was auch immer passiert ist. Carmiggelt dringt in die Abgründe der Menschen hinab, ohne sie bloßzustellen. Selbst Gott und die Welt verfluchende Alkoholiker wirken ein kleines bisschen liebenswert.

War die Welt in den 1960er-Jahren so, oder könnte sie heute immer noch so sein? Zwar handeln die Geschichten in Amsterdam, doch ab den frühen Abendstunden wird wohl in allerlei Städten auf der ganzen Welt in den Kneipen eine eigene Zeit eingeläutet, die parallel zur "Normalität" verlaufen mag. Und genau diese Zeit fängt Carmiggelt meisterhaft ein. Ob seine Geschichten auch ein tatsächliches Zeitzeugnis sind, ist schwer zu sagen. Vielleicht sind die Menschen heutzutage - wo auch immer sie leben - etwas anders veranlagt. Andererseits sind Melancholie und das Leiden am Leben selbst immer zugegen. Menschen, die ihre Sorgen mit Alkohol zu betäuben suchen, können wohl an jeder Straßenecke auftauchen. Dahingehend ist die Darstellung dieser Menschen tatsächlich zeitlos, und doch sind die Geschichten für sich betrachtet einmalig, weil die Nuancen immer andere sind.

"Der kräftige Riese hatte die Zeitung durch. 'Im Fernsehen war gestern Abend wieder einmal nichts', sagte er, mehr im Allgemeinen. 'So treiben sie einen doch in die Kneipe! Wenn ich ein interessantes Programm sehe, bleibe ich sitzen und sehe es mir in Ruhe an. Aber wenn es so ist wie gestern, ziehe ich mir die Jacke an und gehe raus. Dass die Leute einfach nicht begreifen, dass sie auf die Art und Weise den Alkoholismus befördern'."

Nun ja, schlechtes Fernsehen als Vorwand, in die Kneipe zu gehen, ist auch heute noch anwendbar. Das Internet bietet aber die Möglichkeit, auszuweichen und sich sein eigenes Programm auszusuchen. Was aber wäre, wenn niemand mehr in die Kneipen ginge und Streitgespräche über was auch immer anzettelte? Ja, die Menschen sollten mehr miteinander reden und weniger irgendwelchen Quacksalbern auf den Leim gehen. Die Anonymität des Internet hat vieles verändert. Jeder kann sich einbringen und den größten Stuß verbreiten. Und es lesen viele mit, die dem Stuß entweder beipflichten oder eine andere Meinung vertreten. Bei ein paar Schnäpschen und ein paar Bierchen in aller Ruhe gemeinsam zu sinnieren und sich nicht von selbsternannten "Heilsbringern" einen Bären aufbinden zu lassen, erscheint durchaus als adäquate Möglichkeit, dem Leben Sinn abzutrotzen. Ja, sinnieren um des Sinnes Willen, das ist es doch! Das Leben ist zu kurz, um sich bloß die Welt von wem auch immer erklären zu lassen. Das Leben gehört gefeiert, und warum nicht hie und da auch in der Kneipe? Simon Carmiggelt zeigt uns heutigen Europäern, dass wir dazu bereit sein müssen, unsere eigenen Einsichten zu finden, auch wenn die Ergebnisse nicht immer leicht verdaut werden können.

(Jürgen Heimlich; 02/2019)


Simon Carmiggelt: "Auf ein Gläschen. Kneipengeschichten"
(Originaltitel "Kronkels")
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse und Ulrich Faure.
Unionsverlag, 2019. 192 Seiten.
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