Bettina Balàka: "Die Tauben von Brünn"
"Ich hab' eine
Brieftaub' in meinem Sold,
Die ist gar ergeben und treu,
Sie nimmt mir nie das Ziel zu kurz,
Und fliegt auch nie vorbei. (...)"
(Aus dem Gedicht "Die Taubenpost" von Johann Gabriel Seidl)
Der am 15. Mai 1823 in Wien geborene und am 10. Juni 1881 ebendort von
seinem ehemaligen Förster Eduard Hüttler ermordete "Lotteriebaron"
Johann Karl Freiherr von Sothen war eine schillernde Gestalt,
zwielichtig und legendenumrankt, wie auch manche heutzutage betuchte
Prominente. Er trat als gefeierter Wohltäter für Arme ebenso in
Erscheinung wie als Geizhals und Ausbeuter seiner Arbeiter (weshalb sein
Begräbnis zur Massendemonstration unzähliger Wutbürger geriet), hatte
einen Riecher für lukrative Unternehmungen und wohl keine Scheu vor
eigennützigen Betrügereien.
In "Die Tauben von Brünn" bildet diese interessante Figur den Dreh- und
Angelpunkt der Geschichte, wenngleich Bettina Balàka das Schicksal ihrer
Protagonistin Berta Hüttler in den Vordergrund rückt, geht es ihr doch
augenscheinlich primär darum, die Lebensumstände der einfachen Leute
jener Tage abzubilden und Unterschiede sowie allfällige
Übereinstimmungen mit der Gegenwart aufzuzeigen.
Die Autorin, am 27. März 1966 als Bettina Wieland in Salzburg geboren,
absolvierte ein Dolmetscher- und Übersetzerstudium (Italienisch und
Englisch) in Wien. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, im
Jahr 2004 war sie Teilnehmerin beim "Bachmann"-Wettlesen.
Mit viel Einfühlungsvermögen in Dasein und Denken ihrer Protagonistin
zeichnet die Autorin in nicht zeitfolgegemäß aneinandergereihten
Kapiteln mittelbar ein aussagekräftiges Bild des Johann Karl von Sothen,
eines Mannes, der sich aus einfachsten Verhältnissen emporgearbeitet und
wohl auch -getrickst hat. Parallel dazu wird die Familiengeschichte der
notleidenden Hüttlers erzählt, ausgehend von Eduard und Berta Hüttlers
Eltern Wenzel und Josephine, die beide an Schwindsucht sterben, wobei
nach dem Tod des Vaters Wenzel, eines passionierten Taubenzüchters,
dessen Lotteriehaupttrefferlos verschwunden ist und die Waisenkinder zu
Verwandten nach Brünn geschickt werden.
Als der inzwischen zu beeindruckendem Vermögen und Ansehen gelangte
Sothen Berta Hüttler, die eine angeborene Fehlbildung aufweist, nach
Jahren aus Brünn
zurück nach Wien holt, bringt er die vor Liebe blinde junge Frau
zunächst in eine für ihn äußerst vorteilhafte, für sie denkbar
unangenehme Situation, die sie erpressbar und gefügig macht. Später
unterbreitet er ihr ein unwiderstehliches Angebot:
"Ich möchte, dass du deine beste Taube nimmst und mit ihr nach Brünn
fährst, und zwar am Tag der Lottoziehung. Ich werde dir einen
gedeckten Wagen zur Verfügung stellen und einen vertrauenswürdigen
Kutscher, denn alles muss mit äußerster Diskretion vor sich gehen. In
Brünn wartest du, bis die Ergebnisse der Ziehung ausgehängt werden,
dann schreibst du sie auf ein Zettelchen und befestigst es an deiner
Taube. Die Taube fliegt nach Wien und wird von mir in Empfang
genommen." (S. 139)
So kommt es, dass Berta notgedrungen all ihr Wissen und Können als
Brieftaubenzüchterin in den Dienst des skrupellosen Betrügers stellen
muss, bis ihr Bruder Eduard und sein Falke
dem Treiben ein Ende setzen.
Die Kapitelüberschriften illustrieren die Struktur: "Berta Hüttler
1850", "Am Hof Acht Monate zuvor", "Im Paradies", "Das Glück 1837", "Das
Jungfernbründl", "Das Gasthaus zum Goldenen Ochsen 1840", "Berta Hüttler
1853", "Die Liebe Drei Jahre zuvor", "Das Spinnenorakel",
"Oasenbrunnen", "Ruinenlandschaft", "Schwarzkäfer", "Isis Fünfzehn
Monate später", "Berta Hüttler 1881".
Für amüsante oder auch tragische Momente sorgen einige Nebenfiguren wie
beispielsweise der fossilienbegeisterte Arzt Doktor Winternitz (mitsamt
seiner treuen Stute Gerti), die beiden "falschen Russinnen" Mascha und
Nadeschda sowie der wackere Pater Quirin, die jeweils das Ihre zum
facettenreichen Gesamtbild beisteuern.
Nebenbei erfährt man allerlei über z.B. das rasche Wachstum Wiens und
die nicht nur segensreichen Auswirkungen der Modernisierung, über
Glücksspiel und Tauben,
wohingegen politische Vorkommnisse jener Zeiten eher nur gestreift
werden, was vermutlich mit der in einfachen Verhältnissen verbleibenden
Protagonistin, die schlussendlich doch noch ihr wohlverdientes Glück
findet, zusammenhängt.
Übrigens haben Aufstieg und Fall des Wiener "Lotteriebarons" auch die
1977 in Salzburg geborene Schriftstellerin Anna-Elisabeth Mayer
inspiriert, ihr Roman "Am Himmel" ist im Jahr 2017 erschienen.
Bettina Balàkas Roman "Die Tauben von Brünn" bietet mit Lokalkolorit,
Stadtgeschichte und Straßenszenen
aus dem
alten Wien aufwartende kurzweilige Lektüre, anhand derer der Leser
in eine vergangene Zeit eintauchen kann und dabei Ereignisse wie auch
Charaktere präsentiert bekommt, die ungebrochen aktuell sind, weil
anhaltend viele Glücksritter schicksalsergeben auf den großen
Lottogewinn hoffen und vordergründig als Wohltäter auftretende Superreiche
ungeniert und ungehindert ihre eigenen Spiele spielen und solcherart die
Lebenswirklichkeiten der weniger Privilegierten prägen.
(kre; 08/2019)
Bettina
Balàka: "Die Tauben von Brünn"
Deuticke, 2019. 192 Seiten.
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Ein ergänzender Buchtipp zum Thema:
Anna-Elisabeth Mayer: "Am Himmel"
Der Millionär Johann von Sothen ist eine schillernde Persönlichkeit - er
spendet, erhält Orden, errichtet eine Kapelle, bezieht das Schloss "Am
Himmel". Bewundert wird der einstige Losverkäufer anfangs von den Armen,
hofiert immer mehr von den höheren Kreisen und der Kirche. Von
Betrügereien will niemand etwas wissen.
Auf seinem Gut leiden die Arbeiter unter seinem Geiz. Auch der Jäger
Hüttler, der mit seinen vier Kindern und deren Mutter in armseligen
Verhältnissen neben dem Schloss lebt. Das uneheliche Verhältnis des
Jägers wird von Sothen und dessen Frau benutzt, um Hüttler, aber ebenso
die Gutsarbeiter, zu drangsalieren und alle gegeneinander auszuspielen.
Denn solange sie untereinander streiten, hat er nichts zu befürchten. In
dieses Geflecht von Unterdrückung, Abhängigkeit und Aufbegehren trifft
ein Schuss.
In einer dramatischen Rekonstruktion der Ereignisse schildert
Anna-Elisabeth Mayer den Aufstieg eines Mannes, der durch seine Habgier
zu Fall gebracht wird, und entlarvt eine Gesellschaft, die alles dem
falschen Schein von Geld und Macht unterwirft. (Schöffling & Co.)
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