José Eduardo Agualusa: "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer"


Ein literarischer Versuch über das Träumen

Der angolanische Autor José Eduardo Agualusa ist nicht nur eine der wichtigsten literarischen Stimmen Afrikas, sondern einer der wichtigsten portugiesischsprachigen Autoren.

"Ich wachte früh auf. Durch das schmale Fenster sah ich längliche, schwarze Vögel ziehen. Ich hatte von ihnen geträumt. Als wären sie nun aus dem Traum in den Himmel geflohen, ein feuchtes Blatt Seidenpapier, dunkelblau und mit bitteren, stockigen Rändern."
Wie erwartet, wird in diesem Roman viel geträumt. Da gibt es den geschiedenen Journalisten Daniel Benchimol, der von Menschen träumt, die er erst kennenlernen wird. Er ist investigativer Journalist, der kompromisslos aufdeckt und nicht gewillt ist, Bevorzugungen aufgrund seiner familiären Beziehungen zu akzeptieren. Da sein Schwiegervater damit nicht einverstanden ist, kostet ihn das letztendlich seine Ehe und die Arbeit.

Während eines Aufenthalts in einem Strandhotel, das einem alten Bekannten Daniels gehört, findet er eine Kamera. Um seine Neugier zu befriedigen, untersucht er diese und stellt fest, dass der Film unbeschädigt ist. Die Fotos zeigen eine Frau, die Daniel als eine in Kapstadt lebende Künstlerin identifiziert. Eine Frau, die ihm bereits zuvor in seinen Träumen erschienen ist.
Moira, die Künstlerin, träumt ebenso. Ihre Träume finden den Weg in ihre Kunst. Dass Daniel und Moira zusammenfinden werden, ja einfach zusammenfinden müssen, ist bald klar.
"Ich war von den Fotografien besessen. Ich ließ sie ausdrucken, schaute sie mir vor dem Einschlafen an. Und gleich nach dem Aufwachen wieder. Verbrachte viele verlorene Augenblicke damit, diese nackte Frau anzuschauen, so entrückt, so schön. Ich strich mit den Fingern über ihre kleinen Brüste, ihre langen Beine. Und wenn ich einschlief, traf ich sie in meinen Träumen wieder, nur zog sie nun in der Ferne vorbei, nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Landschaft. Nur die schlafwandelnden Vögel redeten mit mir."

Hossi, der Hotelier und Daniels Freund, träumt schon lange nicht mehr. Er leidet, oder um es genau zu sagen, er litt darunter, dass er anderen, ihm teilweise unbekannten Menschen im Traum erschienen ist, was sogar eine Entführung und darauffolgende Inhaftierung durch den kubanischen Geheimdienst zur Folge hatte. Er fühlt sich permanent beobachtet, vermutet hinter unschuldigen Blicken Beschattung.

Daniels Tochter hat andere Träume. Sie träumt davon, den korrupten Staat zu stürzen, schließt sich einer Aktivistengruppe an, die sich die friedliche Stürmung des Parlaments in Luanda als Ziel gesetzt hat. Bei diesem Versuch wird sie verhaftet. Ihren Traum von einer fairen, unkorrupten Regierung gibt sie dennoch nicht auf. Dieser Erzählstrang des Roman basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2015, als eine Gruppe jugendlicher Aktivisten um den Rapper Luaty Beir
ão genau das versucht hatte.
"Sie schwirrten wie Fische in einem Aquarium durch das überdimensionierte Präsidentenbüro und staunten, bewunderten mit großen Augen Gemälde und Schränke, hinter deren aufgerissenen Türen nun Tausende Büsten des Präsidenten zum Vorschein kamen, in Gold und in Silber, und Schädel von früheren, schon seit Jahren verschwundenen Dissidenten, Fraktionisten und Volksfeinden, Glasbehälter mit kleinen, verzweifelten Herzen darin, die noch lebten und schlugen, Kristallkugeln, in denen in einem Himmel so blau wie der meiner glücklichsten Kinderzeit, Spiele schwebten, die noch darauf warteten, von den Kinderprostituierten und barfüßigen Kindern gespielt zu werden.
Es ist alles da, sagte eine der alten Damen und wie mit dem Arm in die Runde. Jeder einzelne Tag, den man uns gestohlen hat."


Daniel träumt auch schon sehr lange davon, die bisher ungeklärte Entführung einer Boeing 727 aus dem Jahr 2003 aufzuklären. Nun ergeben sich zufällig Indizien, dass er den Flugzeugentführer und seinen, wie sich herausstellt, zufälligen Mittäter von damals in Brasilien aufspüren kann. Da er über Moira einen brasilianischen Neurowissenschaftler kennengelernt hat, der in Recife ein Traumlabor unterhält, in dem er Träume in Bilder verwandelt, um Einblick in die Träume von anderen Menschen zu bekommen, hat er nun mehr als ein als einen Grund, eine Reise nach Brasilien zu unternehmen.

Agualusa erzählt nicht chronologisch, schweift immer wieder in Rückblenden ab, wechselt die Szenen teilweise sprunghaft, unterbricht das eine oder andere Mal einen Strang, bevor man als Leser richtig Fuß fassen kann. Das macht vor allem die Lektüre der ersten Hälfte des Romans nicht einfach, weil der Erzählfluss immer wieder ins Stocken gerät. Ab dem Punkt, wo alle Erzählstränge aufbereitet sind, sind diese Bedenken schnell ad acta gelegt.
Die Vielzahl der Erzählstränge dieses Romans hält Agualusa virtuos zusammen - und das nicht nur, weil die meisten davon logisch zusammenkommen, sondern weil das Überthema "Traum" wie eine Art harmonisches Gerüst in einer musikalischen Komposition funktioniert und so Elemente vereint, die nur periphär verwandt sind. Dass das auf faszinierende Art und Weise gelingt, ist nicht nur der Qualität von José Eduardo Agualusas Prosa, sondern auch der wirklich ausgezeichneten Übersetzung von Michael Kegler, zu verdanken.

(Roland Freisitzer; 04/2019)


José Eduardo Agualusa: "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer"
(Originaltitel "A Sociedade dos Sonhadores Involuntários")
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
C.H. Beck, 2019. 304 Seiten.
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