Joost Zwagerman: "Duell"

Novelle


Johannes Jacobus Willebrordus Zwagerman wurde am 18. November 1963 in Alkmaar geboren. Seine von zwei Zeitungsartikeln inspirierte Novelle "Duell" erschien im Jahr 2010 als niederländisches "Boekenweekgeschenk" ("Bücherwochegeschenk"). Mit beeindruckendem Hintergrundwissen, feinem Gespür für menschliche Abgründe und Situationskomik würzte der Autor seine rasante Satire auf den modernen Kunstbetrieb.

Im Jahr 1986 debüttierte Zwagerman als Schriftsteller mit dem Roman "De Houdgreep" ("Der Halt"), galt schon früh als großes Talent und wurde übrigens vom damals Letzten der einstigen "Großen Drei" Harry Mulisch anno 2010 in einer Fernsehsendung als sein "Kronprinz" bezeichnet (zusammen mit A.F.Th. van der Heijden).

Der als Autor extrem produktive Joost Zwagerman verfasste Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays und Kolumnen. Einige Romane des Schriftstellers sind: "De Buitenvrouw", 1984 ("Die Nebenfrau", Picus, 2000), "Vals Licht", 1991 ("Falsches Licht"), "Zes Sterren", 2002 ("Onkel Siem und die Frauen", Kiepenheuer & Witsch, 2005).
Joost Zwagerman litt nach seiner gescheiterten Ehe jahrelang unter schweren Depressionen und beging am 8. September 2015, dem Erscheinungstag seines Essaybands "De Stilte van het Licht. Schoonheid en Onbehagen in de Kunst", in seiner Wohnung in Haarlem Selbstmord.

"Godverdomme, die hand, die vuist!" (Originalbeginn von "Duell")

"Verdammt, die Hand, die Faust! Jelmer Verhooff schaute auf die zerrissene Leinwand und spürte, daß irgendwo in seinem Innersten ein kleiner Knirps aufzustehen versuchte, der nach seiner Mutter rief. Nun ja, ein kleiner Knirps. Ein Junge. Ein großer Kerl. Ein großer Kerl von neun Jahren, der beim Schulschwimmen endlich den Kopfsprung gelernt hatte und der am Ende dieser Schwimmstunde, während der letzten zehn Minuten des "freien Schwimmens" und unter den Augen all seiner Klassenkameraden, furchtlos auf das hohe Sprungbrett stieg, fast sechs Meter hoch. Er wollte der ganzen Welt zeigen, wer er war.
Der große Kerl stieß sich mit den Fußballen ab - und von dem Moment an, als seine Füße vom Sprungbrett federten und er das Wasser auf sich zukommen sah, wußte er, daß er einen entsetzlichen Fehler gemacht hatte. Als er mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche landete, brannte seine Haut sofort lichterloh. Sobald er unter Wasser war (und immer noch brennend), sah und hörte er nichts mehr, und der große Kerl wünschte, er würde nie wieder auftauchen. Am Beckenrand stand natürlich die ganze Klasse, achtundzwanzig Schüler mit Stielaugen, die nicht wagten zu lachen - das taten sie erst später, im blau-weiß gefliesten Umkleideraum und im Bus zurück zur Schule, und dieses Lachen sollte das ganze Schuljahr lang anhalten, ein Tornado aus Gejohle und Gekicher.
Doch zuerst waren da die Hände, die er auf dem Rücken und um die Taille fühlte. Wie sich zeigte, war der Bademeister mit Kleidern und allem hinter ihm hergesprungen und lotste ihn mit fester Hand zum Beckenrand. Prusten, husten, schlucken, heulen. Der große Kerl mußte auf dem Rücken liegen bleiben, auf den kalten Fliesen.
Sein Bauch war knallrot. Vielleicht, dachte er, geht die Farbe nie wieder weg. Sein Gesicht brannte am stärksten.
In den Tagen nachdem seine Hand, halb zur Faust geballt, die Leinwand berührt hatte, mußte Verhooff des öfteren an jenen Nachmittag im Schwimmbad denken. Aber konnte man die beiden Situationen wirklich miteinander vergleichen? Was kostete gechlortes Wasser eigentlich? Hing ein Preisschild an all den Kubikmetern Wasser im Schwimmbad? Das Wasser hatte ihm Schmerz zugefügt, doch hatte er auch das Wasser beschädigt? Ach, was!
Über den Wert der zerrissenen Leinwand würde niemand Scherze machen. Der betrug - er hatte zur Sicherheit bei Olde Husink nachgefragt - schlappe dreißig Millionen Euro. Das war eine konservative Schätzung. Und dann die komische Figur, die er bei dem ganzen gemacht hatte. Achtundzwanzig Klassenkameraden hörten, so kam es ihm vor, das ganze Schuljahr lang nicht auf zu lachen. Haha, da kommt der Ziegelstein Verhooff! Wenn herauskam, daß er eigenhändig Untitled No. 18, 1962 beschädigt hatte, von wem würde er dann bis ans Ende der Zeiten verspottet und ausgelacht werden? Er mußte Realist sein: von - und auch das war eine konservative Schätzung - der ganzen Weltbevölkerung."
(Aus der Novelle)

 

Jelmer Verhooff, der interimistische, bislang erfolgsverwöhnte Direktor des "Hollands Museum" und womöglich ein bisschen des Autors alter ego, und der schräge Restaurator Olde Husink, eine ebenfalls großartig gezeichnete Figur, geraten unfreiwillig in ein turbulentes Abenteuer:
Es geht um einen vertuschten Diebstahl, um Museumspolitik, um ein millionenschweres Gemälde von Mark Rothko, Maltechniken, Kunstgeschichte, um ein Ausstellungsprojekt mit dem Titel "Duell" und um ein daraus resultierendes Projekt der jungen hochbegabten Kunstmalerin und Aktionistin Emma Duiker.

Diese hat das berühmte Gemälde mehrfach perfekt kopiert und das Original im Museum durch eine ihrer Kopien ersetzt, während der Original-Rothko auf eine mehr oder weniger heimliche Reise durch europäische Städte geschickt und quasi inkognito an ungewöhnlichen Orten aufgehängt wird.

Verhoof will die sympathische Künstlerin aus naheliegenden Gründen nicht anzeigen und begibt sich mit Olde Husink auf eigene Faust nach Slowenien, wo das Gemälde gerade in einer Schule hängt, ein "zufällig" auftauchender niederländischer Taxifahrer kleinkriminelle Kontakte knüpft und das wertvolle Bild für die zahlende Öffentlichkeit zurückerobert werden soll ...
Allerdings passiert dem emotionsgeladenen Museumsdirektor bei der Übergabe ein folgenschweres Missgeschick ... doch alles nimmt - fast - ein gutes, jedenfalls offenes, Ende!

Joost Zwagermans "Duell" ist kurzweilige, aufschlussreiche Lektüre, die wertvolle Denkanstöße bezüglich des zeitgenössischen Umgangs mit Kunstwerken liefert, dabei mit skurillen Figuren, bestechenden Dialogen und überraschenden Wendungen aufwartet - kongenial übersetzt von Gregor Seferens.

(Franka Reineke; 11/2018)


Joost Zwagerman: "Duell. Novelle"
(Originaltitel "Duel")
Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Gregor Seferens.
Weidle, 2016. 160 Seiten.
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Taschenbuch:
Piper, 2018. 160 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Nebenfrau"

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"Gimmick!"
Walter van Raamsdonk (Raam) lebt in der Welt junger, erfolgreicher Künstler in Amsterdam. Diese beschäftigen sich vornehmlich mit Geld, Sex und Drogen und, auch das, produzieren hin und wieder Kunst.
Die Kunst ist Raam jedoch herzlich egal. Er versucht seinen Liebeskummer um die verlorene Freundin Sammie mit Videos (meist Pornos), "MTV" und Musik zu übertünchen. Nachts lässt er sich in der Diskothek "Gimmick" treiben, dem Treffpunkt der postmodernen Künstler, wo er so oft mit Sammie war.
Schließlich reist er in der Weltgeschichte herum, um seinen Kummer zu betäuben - aber selbst in New York kommt er nicht von seiner alten Liebe los.
Wieder daheim, erhält er einen hochdotierten Auftrag, hat jedoch kein Kunstwerk dafür. Und er ist nicht in der Lage, ein neues Werk zu schaffen. Da fällt ihm ein, dass noch drei Arbeiten seines Freundes Alex in einer Ecke seines Ateliers stehen ...
In parodistischer Manier zeichnet Joost Zwagerman ein drastisches Bild der späten 1980er-Jahre, in denen die Kunst zum Spiel um Geld und Eitelkeiten verkommt. Die Ich-Erzählung des Protagonisten steht exemplarisch für eine ganze Generation, die nach schnellem Ruhm und Reichtum strebt. Voller Selbstironie und Zynismus lässt Zwagerman seine Hauptfigur die Selbstbezogenheit und Geldbesessenheit seiner Künstlerkollegen kommentieren. In "Gimmick!" werden Künstler zu reinen Geschäftsleuten, Kunst wird nicht mehr an ihrer Einzigartigkeit, sondern am Marktwert gemessen. Auch in der Liebe geht es nur ums Geschäft, für Sentimentalitäten bleibt kein Raum. Sexualität wird zu reiner Obsession, ist allgegenwärtig - und steril. Das Wertesystem der Gesellschaft ist komplett ausgehöhlt: In der inhaltsleeren Kunst ist alles erlaubt, nichts kann mehr schockieren, die Künstler und ihre Werke werden austauschbar.
Nach nur wenigen Monaten ist das "Gimmick" schon wieder unmodern. Die postmoderne Künstlerszene ist der Schnelllebigkeit des Marktes hinterhergehechelt.
Joost Zwagerman (1963-2015) war einer der bedeutendsten niederländischen Autoren seiner Zeit. Er schrieb Gedichte, Essays, Erzählungen und Romane. "Gimmick!" erschien erstmals anno 1989 und ist inzwischen der Roman einer ganzen Generation. Er gehört in den Niederlanden mit 250.000 verkauften Exemplaren zu den meistgelesenen Büchern der letzten 25 Jahre. (Weidle)
Leseprobe:
"Gutes Timing, Raam! Was führt dich her?"
Groen boxt gerade gegen seinen mit Graffiti bedeckten Sandsack. Ehe ich ihm antworten kann, weshalb ich gekommen bin, deutet er auf ein paar Gemälde, die in einer Ecke stehen.
"Schau mal, sind diese Arbeiten nun Materie oder Transaktion?"
Ich erwidere, das wüßte ich nicht, ich wollte nur meine Schlüssel holen.
"Schlüssel, Schlüssel! Shit, Raam, lenk nicht vom Thema ab, right? Welche Schlüssel meinst du übrigens?"
"Die Reserveschlüssel zu meiner Wohnung. Die habe ich doch bei dir deponiert?"
Ein ziemlich kleines, aber tough wirkendes Mädchen kommt aus der Küche, in den Händen zwei Tassen Kaffee. Das Mädchen geht in Ballettschühchen und trägt ansonsten nur eins von Groens weißen Hemden. "Jajajaja", sagt Groen rasch, als er bemerkt, daß ich zu dem Mädchen rüberschaue. "Darf ich dir kurz meine neue Rettungsweste vorstellen? Du kennst sie nicht, das ist Dolfijntje. Dolfijn, das ist Raam."
Die beiden Arbeitstische von Groen liegen voller Zeitschriftenstapel (Interview, Flash Art, Playboy), und daher stellt das Mädchen die Tassen auf den Boden. Sie hat große dunkle Augen, südlicher Typ. Eine echte Perle mit halblangem schwarzen Haar, Fünfziger­Jahre­Frisur.
Groen schlägt mir ziemlich hart auf die Schulter. "Sind diese Gemälde nun Materie oder Transaktion, Raam? Mann, Mann, Mann, ich muß dir wieder alles mögliche beibringen, Dummkopf. Diese wahnsinnig guten Bilder sind Antimaterietransaktionen, Raam. Antimaterietransaktionen. Ich meine, verstehst du?"
Ich habe noch nie von Antimaterietransaktionen gehört, doch Groen berichtet, irgendein Amerikaner habe vor fünf Jahren in Rio de Janeiro die ersten Antimaterietransaktionen ausgestellt, und Europa und vor allem Amsterdam seien jetzt reif für das Konzept der Antimaterie in Verbindung mit der Transaktion.
"Wo hast du Dolfijntje aufgegabelt?" frage ich.
"Fuck, Raam, steck deine Scheißnase nicht in anderer Leute Angelegenheiten! Bleib du mal fein bei deinen Schlüsseln."
Dolfijntje bringt mir Kaffee. Wir trinken Armagnac dazu. Ich schaue auf die Brüste unter Dolfijntjes Hemd, während Groen die Texte auf den schwarzen Blättern deklamiert. Irgendein japanisches Kriegsdokument. Groen erzählt, er habe die Texte zusammen mit einem japanischen Freund übersetzt und anschließend eine entscheidende Änderung angebracht. Überall, wo "die japanische Armee" stand, steht jetzt "westlicher Sex". Ich frage Groen, woher er das Dokument hat. Groen erwidert, ein anderer japanischer Freund habe es für ihn geschrieben.
"Also ist es gar kein Originaldokument?" frage ich.
Groen reagiert ein wenig gereizt.
"Original, Original, was soll das bedeuten? Original? Sind die Ringe unter deinen Augen auch original? Ja? Nun, be sensible, Raam. Dann laß sie dir im Krankenhaus wegmachen und frage, ob du sie mit nach Hause nehmen darfst. Dann kannst du einen japanischen Text darüber schreiben."
Eine nur ihm verständliche Assoziation nennt Groen Humor. Also lacht er ausgelassen und stößt dabei seinen Kaffee um. Ich sage zu Groen, er solle nicht so gestreßt reagieren. Groen sagt, er sei überhaupt nicht gestreßt, ich solle nur nicht so dämlich darauf rumreiten, was original ist und was nicht. Und ob ich nichts anderes zu erzählen hätte.

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