Martin Walser: "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte"


Liebe in Zeiten der Vernetzung: Eine in sanften Dosen verabreichte Desillusionierung

Martin Walsers Protagonist, unglaubliche 55 Jahre alt, sich aktuell Justus Mall nennend, führt zwischen Oktober 2016 und dem Hochsommer 2017 ein Netztagebuch, dessen vordergründiger Zweck es sein soll, eine "Unbekannte", die idealisierte, perfekte Gefährtin nämlich, anzulocken, auf die Probe zu stellen und schließlich - womöglich - zu erwählen, jedoch sollte wohlgemerkt die Frau den ersten Schritt tun. Dabei ist der Mann verheiratet und hat überdies eine Geliebte, die jedoch in die transatlantischen Wissenschaftsweiten verschwindet, als sich der Umgetriebene nicht zwischen den beiden Frauen entscheidet.  Auch die weiteren Themen sind für eingefleischte Walser-Leser wohlbekannte: Einmal minnesangähnliche, dann wieder regelrecht handgreiflich werdende Schwärmerei für Frauen, wobei das eine oder andere Fettnäpfchen lauert und die Überfrachtung gewisser Lebensbereiche mit weiblichen Sexualmerkmalen (z.B. mit "steilen Brüsten" und "gleißendem Oberschenkel") kritisch bis leidend-lüstern beäugt wird, und mehr oder weniger abstraktes Gerangel mit dem abwesenden Lieblingsfeindkritiker, das Hinundhergerissensein zwischen Verklemmtheit und Aufmüpfigkeit, zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen, somit der - auch - von Hoffnungen, Träumen, Kränkungen und Missverständnissen gesäumte Lebensweg in geraffter Kurzversion.

Hinzu gesellen sich Streitigkeiten mit einer "trockene Scheide" genannten Nachbarin, ein im wahrsten Sinn "überflüssiges", nichtsdestotrotz höchst lukratives Buchprojekt, die ruhmlose Frühpensionierung des vormaligen Oberregierungsrates in bayerischen Staatsdiensten nach einer medial hysterisch aufgeblähten Grapschaffäre, wobei schließlich eine praktischerweise herbeidiagnostizierte Alzheimer-Erkrankung als Zuflucht dient, intensive Sprachbetrachtungen, poetische Passagen, Rohmaterial für Selbstanalysen und Spielereien mit modernen Opferrollen. Dies alles sorgsam unterfüttert mit allerlei Geständnissen des zwangsweisen Vollzeitphilosophen im Unruhestand, denn schließlich will er sich endlich einmal nach Kräften gänzlich offenbaren, was sich als gar nicht so einfaches Unterfangen herausstellt ...

Vollkommen außer Streit stehen der Fleiß und die Beharrlichkeit des am 24. März 1927 geborenen Schriftstellers Martin Walser, der wacker weiterschreibt und stilistisch ebenso frisch wie offenherzig Zeugnis davon ablegt, dass ihn das Alter keineswegs davon abhält, seine Lieblingsthemen wieder und wieder mit geradezu alterungsresistenter Obsession abzuhandeln. Auch spricht er nach wie vor die Hörbuchausgaben seiner Werke selbst - gar alles verdient Respekt!

"Ich bin nicht der, den ihr aus mir machen wollt, das war sein Leitmotiv. Ich kenne den nicht, den ihr in mir seht. Ich weiß von mir nur, dass ich zwar nicht weiß, wer ich bin; aber dass ich der, den ihr in mir sehen wollt, nicht bin, das weiß ich." (S. 87)

"Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte", kurz nach dem 91. Geburtstag des Autors erschienen, wirkt allerdings resignativer als die vorherigen Romane, nur ganz selten findet sich leichtfüßige Situationskomik, das Aufbegehren gegen tatsächliche oder vermeintliche Unzumutbarkeiten ist weitgehend abgeebbt, nicht jedoch die stellenweise trotzige Auseinandersetzung in Theorie und Praxis mit den mannigfaltigen Hürden des Mannseins an sich: Der Spezialist der Unreife schöpft aus dem Vollen. Die eventuell als romantisch zu bezeichnende Grundgesinnung bekommt infolge brutaler Konfrontation mit der sogenannten Wirklichkeit gelegentlich Dellen, das Individuum fühlt sich häufig seelenallein, unverstanden von der Welt, und ruft seine Sehnsüchte in die elektronische Parallelwelt, die letztlich eine desillusionierende Sackgasse für denkende und fühlende Wesen bleiben muss, hinaus.

Die Partnersuche ist bekanntlich nun einmal kein Wunschkonzert, und das störrische Stöbern danach, was der Begehrende im Augenblick als perfekt ansieht, führt naturgemäß mittelfristig zu Frustration. So findet Martin Walsers Rufer in der elektronischen Wüste vielleicht einen Weg, sich der eigenen Biografie angemessen zu nähern, die perfekte Geliebte freilich nicht, dazu sind seine allzu aufrichtigen "Kontaktanzeigen", eigentlich Selbstgespräche in Schriftform, ungeeignet.
Martin Walser verdeutlicht einerseits, dass Menschen, ob sie es nun selbst merken oder nicht, grundsätzlich bestrebt sind, sich in möglichst gutem Licht zu präsentieren, vor allem, wenn sie etwas erreichen wollen, und andererseits, dass die schmeichelhaften Hüllen ungeheuer schnell fallen können, sobald die Sehnsucht nach (auch nur eingebildeter) Echtheit wächst. Also fügt sich Justus Mall, ein Bekannter hat inzwischen Selbstmord begangen, die "Eine" liegt im Krankenhaus, wieder einmal zufrieden-unzufrieden in sein Schicksal und konstatiert unbelehrbar: "Liebe ist nichts anderes als Unselbständigkeit" (S. 104)

Martin Walsers Tagebuchtexte des gemütlich-unbehaglich in seinem Leben eingenisteten Mittfünfzigers Justus Mall kann man sich übrigens sehr gut für die Bühne adaptiert vorstellen.

(kre; 03/2018)


Martin Walser: "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte"
Rowohlt, 2018. 107 Seiten.
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Hörbuch:
Argon, 2018. 3 CDs. Laufzeit: 3 Stunden, 30 Minuten. Ungekürzte Autorenlesung.
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