Mich Vraa: "Die Hoffnung"
Ein
dunkles Kapitel in der Geschichte Dänemarks
Vorweg, Mich Vraas schwer beeindruckender Roman "Die Hoffnung" sollte
wahrscheinlich mit einem Aufkleber versehen sein, der vor
möglichen Nebenwirkungen, wie beispielsweise starker
Übelkeit, warnt, die mit der Lektüre einhergehen
könnten. Es gibt immer wieder Passagen in diesem Roman, die
fast nicht zu ertragen sind. Einfach weil das, was hier beschrieben
wird, so menschenunwürdig ist. Mich Vraa hat einen Roman
vorgelegt, der sich mit dem Sklavenhandel und der Sklavenhaltung auf
Dänisch-Westindien beschäftigt. Saint Thomas, Saint
Croix und Saint John waren jene Inseln, die seit 1665 zu
Dänemark gehörten und heute zu den amerikanischen
Jungferninseln zählen. Nach einer Volksabstimmung in
Dänemark (der allerersten in Dänemark
übrigens) wechselten die Inseln am 1. April 1917 für
fünfundzwanzig Millionen US-Dollar unter dänischer
Gesamthoheit über
Grönland den Besitzer. Das heutige
Touristenziel war im 18. Jahrhundert allerdings eher ein
dänisches Piratennest, auf dem Sklaventreiberei und
natürliche Sklavenvermehrung zum Zweck des Zuckeranbaus im
Mittelpunkt stand. Mit dieser Zeit beschäftigt sich Mich Vraas
Roman, der klug strukturiert mehrere Erzählstränge
entwickelt, die um die zwanzig Jahre auseinanderliegen, und am Ende
zusammenführt.
Mich Vraa erzählt seinen Roman mithilfe von
Tagebucheinträgen, Logbucheinträgen, Briefen und
Auszügen eines Buchmanuskripts, das ein junger Däne
auf Sankt Thomas gegen die Sklaventreiberei schreibt. Durch das Fehlen
einer linearen Erzählung erfährt der Leser erst im
Verlauf des Romans die Zusammenhänge und hat erst am Ende eine
Art vollendetes Gesamtbild. Bis hinein ins dritte Drittel dieses recht
umfangreichen Romans hatte der Rezensent den Eindruck, dass ein anderer
Erzählaufbau möglicherweise sinnvoller und
überzeugender gewesen wäre, dann jedoch beginnt Vraas
Logik zu greifen und erscheint letztendlich als die doch einzige
Möglichkeit, so viele unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen
zu lassen.
1788 ist die Kapitän Frederiksens Schiff "Hoffnung" mit einer
Ladung Sklaven unterwegs, als es durch eine Nachlässigkeit zu
einem Aufstand der Sklaven kommt. Die Frau des Schiffsarztes wird
getötet, Kapitän Frederiksens Frau schwer
misshandelt, es gibt Tote und Verletzte, auch das Schiff wird schwer
beschädigt, bevor es in Sankt Thomas einlaufen kann und
repariert wird.
"Die Männer haben ihn an den Besanmast genagelt; sie
trieben einen Marlspieker durch seine Hände in das Holz des
Masts und traktierten ihn mit einer Lederpeitsche, bis er wie ein
blutender Fetzen an dem Eisen hing, das ihm durch die
Handwurzelknochen
und das Bindegewebe genagelt war. Sie peitschten ihn bis zu seinem
letzten Atemzug, und ich stand hinter ihm an Deck, sah jeden einzelnen
Schlag und hörte jeden einzelnen Schrei, bis er verstummte."
Vierzehn Jahre später (1802) begibt sich die
vierzehnjährige Marie Frederiksen auf eine Schiffsreise nach
Jütland mit ihrem Vater, der mittlerweile Reeder ist und seit
der damaligen Rückkehr aus Sankt Thomas nicht in See gestochen
war. Der für ihn arbeitende Kapitän Bernt war bereits
1787-88 mit von der Partie. Maries Mutter lebt seit der
Rückkehr abgewandt von Mann und Tochter bei ihrer Schwester
und bemüht sich mit aller Vehemenz, Maries Pläne, auf
diese kurze Reise mit der "Hoffnung" zu gehen, zu torpedieren. Marie
lässt sich aber nicht davon abbringen. Aufgrund von diversen
Indizien härtet sich der Verdacht von Anton Frederiksen, dass
Kapitän Bernt die letzten Jahre Sklaventransporte
durchgeführt hat, obwohl der Sklavenhandel seit zwanzig Jahren
verboten ist. Er ahnt nicht, dass Bernt in Wahrheit auf dem Weg nach
Westafrika ist, um Sklaven zu kaufen, um sie danach in der Karibik zu
verkaufen. Es kommt zu einer Konfrontation mit Bernt, die dazu
führt, dass Frederiksen verletzt wird und Bernt die Kontrolle
über das Schiff übernimmt. Marie und ihr lange
dahinsiechender Vater dürfen das Schiff nicht mehr verlassen
und sind de facto Gefangene des Kapitäns. Während es
ihrem Vater langsam besser geht, erfährt Marie die Wahrheit
über die Vergangenheit ihres Vaters und ihre Herkunft. Ein
Orkan führt dazu, dass die "Hoffnung" in
Dänisch-Westindien Schiffbruch erleidet und sinkt. Maries
Vater, der sich bemüht, so viele Sklaven wie möglich
zu retten, stirbt dabei, während Marie überlebt.
Diesen Erzählstrang erlebt der Leser aus fast allen
Perspektiven: Maries, Anton Frederiksens, Kapitän Bernts ...
"Die beiden jungen Seeleute tauschten einen kurzen Blick aus,
dann bückten sie sich und legten gleichzeitig eine Seite des
zerschlissenen Segeltuchs, auf dem der Mann lag, wie ein Leichentuch
über ihn, sodass ich ihn nicht länger sehen konnte.
Dann hoben sie ihn wieder an, ihm entfuhr ein Geräusch, ein
Wimmern oder ein erschrockenes Schnappen nach Luft, trugen ihn zur
Brüstung und warfen ihn zusammen mit dem Segel über
Bord. Wie Abfall aus der Kombüse: Haifischfutter."
1823/24 begibt sich Mikkel Eide nach Sankt Thomas, wo er im Auftrag
eines gewissen Herrn de Souza ein Buch über die Problematik
der Sklavenhaltung und gegen die Sklaverei per se schreiben soll. Er
ist Gast von Jan Marcussen, der ihm auf seinem Besitz das
Gästehaus zur Verfügung stellt. Mikkel Eide lehnt die
Sklaverei ab und möchte mit den Sklaven Gespräche
führen, ihre Meinung hören und strebt eine Befreiung
der Sklaven an. Allerdings, und hier ist Mich Vraa vielleicht die
interessanteste Figur gelungen, ahnt er nicht, wie sehr ihn die
Aussicht auf Machtausübung, vor allem im sexuellen Bereich,
korrumpieren wird, wie sehr er in eine persönlich
unlösbare Situation kommt, wo Begehren und
Möglichkeit mit der eigenen Weltanschauung so stark
kollidieren, dass es zu einem offenen Schlagabtausch kommen muss. Auch
diesen Erzählstrang führt Vraa, durch die
abwechselnden Perspektiven von Jan Marcussen und Mikkel Eide, gekonnt
zu einer Katharsis.
"Und Eide, dieser belesene Idealist, der nach Sankt Thomas
kam, um für die Sache der Neger zu kämpfen,
tötete stattdessen einen schwarzen Mann. Rauchte sich mit
Opium geil und ging mit einem alten Libertin wie mir ins Negerbordell.
Woraufhin ihn die Liebe zu einem Negermädchen und die
Begeisterung für die Natur der Insel so verstörte,
dass er schließlich weder aus noch ein wusste. Eine durch und
durch komische und einigermaßen tragische Figur!"
Diese beiden Hauptstränge werden durch Zitate und
Gesetzestexte unterbrochen, die das Erzählte immer wieder
auflockern.
Mich Vraa bedient sich einer Sprache, die dem damaligen Sprachgebrauch
entspricht. Dadurch, dass er seine Figuren über
Tagebucheinträge, Notizen, Briefe und Logbucheinträge
zu Wort kommen lässt, ist das eine Notwendigkeit zur
authentischen Gestaltung. Die schwarzen Sklaven werden dabei
beispielsweise nur als "Neger" bezeichnet. Die
Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, ist, der damaligen Zeit
zwar entsprechend, allerdings eine wirkliche Zumutung. Eine Zumutung
allerdings, die höchstwahrscheinlich notwendig ist, weil sie
ungeschönt darstellt, wie rücksichtslos mit Menschen
umgegangen wurde, die die weißen Kolonialherren schlechter
behandelt haben, als ihre Tiere.
"Etwas weiter entfernt untersuchte eine Käuferin die
Reihe der männlichen Sklaven. Ich riss die Augen auf, als ich
sah, wie sie eine Hand unter den sauberen, neuen Lendenschurz des
Mannes steckte und mit ihrer behandschuhten Hand seine
Männlichkeit umfasste. Sie zog das Glied ans Licht,
bückte sich ein wenig und studierte sein Geschlechtsorgan
genau. Dann ließ sie es wieder an seinen Platz hinter den
Schurz fallen."
"Die Hoffnung" ist allerdings auch ein Entwicklungsroman, denn nicht
immer ist alles so, wie es im ersten Moment scheint. Jeder muss mit dem
leben, was sein Leben ausmacht. Jan Marcussen ebenso, der, wie sich
nicht ganz überraschend herausstellt, der Schiffsarzt auf der
tragischen Fahrt der "Hoffnung" im Jahre 1787 war.
In den letzten paar Jahren sind einige wichtige Romane entstanden, die
sich mit der Sklaverei
beschäftigen, wie Colson Whiteheads
"Underground Railroad" und Yaa Gyasis "Heimkehren". Mich Vraas "Die
Hoffnung" reiht sich nahtlos ein. Von Ulrich Sonnenberg hervorragend
übersetzt, ist "Die Hoffnung" allerdings wahrscheinlich das
unangenehmste Buch dieser drei. Unangenehm deshalb, weil die
Schilderungen der Geschehnisse fast nicht zu ertragen sind. Allerdings
ist es in diesem Fall notwendig und irgendwie auch bereichernd, sich
dieser Tortur zu unterziehen, erstens, weil es eine wichtige Erfahrung
ist, die man macht, und zweitens, weil Vraa am Ende das schafft, was
man lange nicht für möglich hält,
nämlich einen wirklich beeindruckenden Roman zu schreiben, der
nicht nur aufgrund seiner geschichtlichen Tragweite fesselt, sondern
auch aufgrund seiner literarischen Qualität und des
Spannungsbogens, der wirklich gelungen ist.
(Roland Freisitzer; 01/2018)
Mich
Vraa: "Die Hoffnung"
(Originaltitel "Haabet")
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Hoffmann und Campe, 2017. 431 Seiten.
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Mich Vraa, geboren 1954, lebt als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer mit seiner Familie in Odense, Dänemark. Er übertrug u.a. Jonathan Franzen, Ernest Hemingway und Don DeLillo ins Dänische.