Christina Viragh: "Eine dieser Nächte"


Man sitzt in einem Flugzeug und hat einen Langstreckenflug vor sich. Man freut sich darauf, etwa sieben bis acht Stunden mit einem guten Buch zu verbringen oder möchte sich durch Bordunterhaltungsprogramm betrachten. Vielleicht möchte man auf einem Nachtflug auch nur, so geht es in einem Economy-Klasse-Sitz möglich ist, schlafen. Das Flugzeug hebt ab, man greift zum Buch oder macht die Augen zu, und da ist er. Der eine Passagier, der meint, der Vorhang für seinen Auftritt wäre jetzt aufgegangen. Der erzählen aus seinem Leben erzählen muss, der vielleicht beflügelt durch ein Glas Whisky am Flughafen jegliche Schüchternheit ablegt und alle Passagiere in seiner Umgebung in seinen Auftritt miteinbezieht. Der Albtraum jedes Reisenden.

Christina Viraghs "Eine dieser Nächte", zwölf Jahre nach ihrem sehr überzeugenden Roman "Im April" erschienen, setzt genau da an. Wir befinden uns auf einem Flug von Bangkok nach Zürich, Flugzeit an die zwölf Stunden. Ein Flug, der praktisch gegen die Nacht fliegt, also gegen die Zeit. Dabei konzentriert sich die Autorin auf die hinteren Reihen im Flugzeug. Passagiere, die nur der Zufall der Sitzplatzwahl oder Sitzplatzzuweisung zueinander geführt hat. Hier sucht jeder seine Ruhe, will eigentlich keinen Kontakt. Bis auf einen. Am Ende des Fluges werden die Geschichten zu einem großen Ganzen verschwommen sein.

Emma, aus Ungarn stammende Schriftstellerin, knapp unter fünfzig und in Rom lebend, wahrscheinlich das literarische alter ego der Autorin, freut sich überhaupt nicht, die Reihe mit dem stämmigen Amerikaner zu teilen, der rein optisch allen Klischees über Sextouristen zu entsprechen scheint. Sie stellt sich vor, wie er nach unzähligen, billigen Sexabenteuern mit wohl minderjährigen thailändischen Mädchen nach Hause fliegt und hat dementsprechend noch weniger Lust auf irgendeinen Kontakt. Bill ist laut, vulgär und behandelt die Flugbegleiterinnen rüde, während er sich einen Whisky nach dem anderen bestellt. Nun ist Bill aber nicht davon abzubringen, die Geschichten herauszulassen, die er offenbar erzählen muss. Und so verwickelt er nach und nach alle Passagiere in seinem Umkreis in seinen Erzählstrudel.

Da gibt es beispielsweise einen jugendlichen Blogger, der all das, was er hört, in sein Tablet hineinhämmert. Er will eine gute Geschichte, die er ins Netz stellen kann. Eine sehr klug gewählte Figur, weil der Junge so etwas wie ein Erinnernder ist. Er kann das wiedergeben, was die Anderen unter Umständen nicht mitbekommen haben. Dann gibt es ein homosexuelles Paar, Stefan und Michael. Und den Ethnologen Walter. Und Emma. Natürlich schlummern in allen von ihnen Geschichten, die, ausgelöst durch das insistierende Bohren des Amerikaners, der keine Scheu oder Rücksicht zu kennen scheint, erzählt werden müssen. Das geht so weit, dass die Geschichten irgendwann ineinanderfließen und zu einer großen Erzählung werden.

Ohne wirklich chronologisch vorzugehen, erzählt der Amerikaner von seinem im Vietnamkrieg umgekommenen Vater, von seiner Kindheit in North Dakota und von seiner Arbeit als Postsortierer. Er erzählt von seiner Heirat mit einem deutschstämmigen Mädchen, das er Ännchen nennt. Von seinem Großvater Joe, einem gebürtigen Slowaken, der seine Laufbahn als Hundedresseur begann, und letztendlich mehr oder weniger gesittet als Uhrmacher endete. Er erzählt vom Hund des Großvaters, Martha, und davon, dass er, beflügelt durch die Treue dieses Hundes, seinem treuesten Gefährten auch diesen Namen gegeben hat. Sein treuester Gefährte ist der Whisky. Und er erzählt vom rätselhaften Tod eines Wanderpredigers. Was das alles miteinander zu tun hat, weiß man lange nicht.

Da Bill gar nicht locker lässt und seine unfreiwilligen Weggefährten fast provozierend und mit dem Gespür eines Wünschelrutengehers auf ihre wunden Punkte und unausgesprochenen Ängste stößt, öffnen sich diese auch langsam. Während sich die Boeing 777 also wie ein dicker, schwerer Pfeil mit 900 Stundenkilometern in Richtung Schweiz durch die Nacht bohrt, breiten auch die Mitreisenden ihre Geschichten aus. Walter kann seine Verzweiflung darüber nicht mehr verbergen, dass seine Ehe mit der Therapeutin Marja in die Brüche gegangen ist und diese nun mit einer Frau zusammenlebt. Michael taucht in seine Familiengeschichte ein, die ihren Ursprung in Italien hat. Und auch Emma taut auf und erzählt von ihrer Jugendliebe.

Leitmotive, wie die Espe, welche die Jugend von Bill und seinem Bruder Joey begleitete, sowie einige andere Kunstgriffe, die hier nicht verraten werden sollen, führen dazu, dass sich diese so unterschiedlichen Geschichten zu einer Art Strudel vermischen, einander wie Schlingpflanzen umfassen und am Ende so eng miteinander verwoben sind, dass Emma überzeugt davon ist, Teil der Geschichte Bills zu sein und sich ebenso als Mörderin des Wanderpredigers wähnt.

Wer jetzt die Ohren spitzt und denkt, dass das alles konstruiert und unrealistisch ist, darf beruhigt sein. Dieser aus so vielen verschiedenen Erzählungen bestehende Roman wird zu einem großen Ganzen, zu einer Erzählung, die ebenso gewaltigen Sog aufweist, wie die 300 Tonnen schwere Boeing 777 mächtig durch die Nacht rauscht. Das ist erfrischendes, beeindruckendes und unvergessliches Erzählen, welches die Hoffnung aufkommen lässt, dass die Autorin bald den nächsten Roman  veröffentlichen wird.

(Roland Freisitzer; 06/2018)


Christina Viragh: "Eine dieser Nächte"
Dörlemann, 2018. 496 Seiten.
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Christina Viragh, geboren 1953 in Budapest, kam mit sieben Jahren nach Luzern. Studium der Philosophie und Literatur. Seit den 1980er-Jahren ist sie als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Zahlreiche Publikationen, zuletzt erschienen die Romane "Pilatus" und "Im April". Christina Viragh übersetzte u.A. Marcel Proust, Imre Kertész, Sándor Márai und Péter Nádas. Für ihre Übersetzung von Nádas' "Parallelgeschichten" erhielt sie anno 2012 den "Preis der Buchmesse Leipzig". Sie ist korrespondierendes Mitglied der "Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" und lebt in Rom.