Dirk van Versendaal: "Nyx"


Schaurig dystopischer Thriller

Stellen Sie sich ein schwarz lackiertes, schwimmendes Altersheim vor, das vier Kilometer lang und siebzig Decks hoch ist. Beamen Sie sich ins Jahr 2040, in eine Zeit, in der die "Gutmenschen" mehr oder weniger ausgestorben sind, in eine Zeit, in der die Alten nicht mehr in Pflegeheimen in der Nähe ihrer Liebsten untergebracht werden, sondern eben auf der "Nyx", die im gefühlten Schneckentempo über die Weltmeere gondelt. Deshalb gefühlt, weil auf einem derart großen Schiff jegliches Gefühl der Bewegung inexistent ist. Was man allerdings wohl spürt, sind die Winde, die auf den oberen Decks rasch wie ein Orkan anmuten. Dieses schwimmende Monstrum hat seine besten Tage allerdings längst hinter sich. Die Kabinen stinken, die Fußböden glänzen speckig, die Promenadendecks sind alles Andere als ein Ort der Erholung, das ist pure Tristesse im großen Rahmen.

Van Versendaal hat ein schauriges Zukunftsszenario entworfen, das, so der Verlag, "düster wie ein Film von Lars von Trier" ist. Das stimmt prinzipiell auch, vor allem im ersten Drittel des Romans, der, obschon ein Thriller, eigentlich in keine Schublade passt. Eine sehr sympathische Tatsache.
In dieser Schauerwelt werden Piraten auf den Weltmeeren von Drohnen und Kampfrobotern getötet und möglichst viele Handgriffe mechanisch erledigt. Allerdings nicht alle. Für die Pflege der vielen Alten an Bord der "Nyx" ist ein ganzes Heer von Bediensteten angestellt.

Gleich zu Beginn lernt der Leser Polly kennen, eine deutsche Ärztin, die in Oslo zusteigt. Ihre Motivation, auf der "Nyx" zu arbeiten, kann man als Flucht deuten. Eine Flucht vor dem Leben, für eine gute Bezahlung, die selbst einen Aufenthalt in dieser seelischen Einöde ermöglicht.
Dann ein Nachtszenario, bei dem der Kollege des niederländischen Technikers Rafael beim Entsorgen der Windelmassen in die Hochöfen verschwindet. Hat ihn ein Windstoß über Bord gefegt? Ohne Sicherheitsmaßnahmen arbeitet zwar niemand auf diesen hohen Decks, doch möglich ist alles. Oder steckt irgendeine Verschwörung dahinter? Vielleicht sogar "Killer-Roboter"? Dirk van Versendaal deutet hier viel an, lässt sich möglichst viele Optionen offen.

Man lernt auch einige der Pensionisten kennen, die ihren Lebensabend auf der "Nyx" fristen. Da gibt es die Italienerin Rosanna, die in einer teuren, für die Verhältnisse schicken Kabine wohnt, weil sie sich das aufgrund des Verfassens von Erotikgeschichten leisten kann. Zwei Pensionisten gönnen sich ebenfalls so lange möglichst luxuriöse Kabinen, bis ihnen das Geld ausgeht und sie in Innenkabinen der billigsten Sorte in trister Einsamkeit sterben.

Figuren gibt es en masse, viele davon sind durch ihre Vorgeschichten vorbelastet und muten schräg bis skurril an. Drogen, Gewalt und Sexualität, allerdings auch diese von einer morbiden Stimmung. Die Figuren der Pensionisten sind allerdings nur schwer greifbar.
Obwohl es sich um einen Thriller handelt, fehlen diesem Roman spannungsgeladene Szenen, was dazu führt, dass dieses Konvolut an Geschichten, die immer wieder aufeinandertreffen, in Wahrheit extrem statisch wirkt. Auch sind jene Geschichten, die einander begegnen, immer wieder dieselben, was die Frage aufwirft, warum das Szenario der "Nyx" so umfassend sein muss. Ein kleineres Altenheimschiff hätte wahrscheinlich plausibler gewirkt, weil so der Eindruck entsteht, dass man nur einen kleinen, sehr ausgewählten Ausschnitt zu Gesicht bekommt. Obwohl es um das Ganze per se geht. So fehlt etwas Wesentliches, das notwendig wäre, um außer Stimmung auch ein überzeugendes Szenario bieten zu können.

Van Versendaal schreibt ausgezeichnet, stilistisch vielfältig und mit einer überbordenden Anzahl von nautischen Fachausdrücken, die den Text bereichern. Seine Dialoge sind stimmig und begeben sich sehr oft auf jargonhaftes Terrain, was im Kontext überzeugt.
Dennoch, und es ist nicht leicht zu fassen wieso, funktioniert der Roman "Nyx" eigentlich nicht. Das liegt womöglich an der Tatsache, dass die Protagonisten seltsam unbeteiligt bleiben. Irgendwie so, als schleppten sie sich auf der schlickbesudelten Oberfläche dahin, aber nähmen nie aktiv am Geschehen teil. Es passiert viel, nur bleibt der Eindruck, dass jene, die es betrifft, lediglich zusehen.

Van Versendaal hat wirklich gute Ideen, er wirft auch intelligent durchdachte Fragen in den Raum. Zum Beispiel jene, die sich damit beschäftigt, was der Mensch, abseits des Konsumdenkens, überhaupt zum Leben braucht. Oder jene, die erforscht, was ein erfülltes Leben sein könnte, oder wie Freude im Alter ausgelebt werden könnte. Der Autor geht auch sozialen Spannungen nach, die sich in so einer territorial restriktiven Umgebung entwickeln können. Das ist alles gut nachvollziehbar und führt dazu, dass man diesen Roman von Anfang an positiv gestimmt liest. Was die Stimmung am Ende trübt, sind die Unstimmigkeiten, die sich immer wieder öffnen, so, als hätte der Autor ein wenig die Übersicht über seine Figuren verloren. Und die Tatsache, dass der stilistisch beeindruckenden Prosa ein sprunghaft konstruiertes Zeitkonzept gegenübersteht, das den erzählerischen Fluss holprig und unstimmig erscheinen lässt, fast so, als wäre "Nyx" schlecht geschrieben. Was sich natürlich mit der Bemerkung zur beeindruckenden Prosa zu schlagen scheint.
Fazit: Beeindruckend, doch nicht überzeugend.

(Roland Freisitzer; 01/2018)


Dirk van Versendaal: "Nyx"
Rowohlt, 2017. 445 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Dirk van Versendaal, geboren in Rotterdam und in Hamburg aufgewachsen, war zuerst Schneider, bevor er auf die Journalistenschule ging, Redakteur beim "SZ-Magazin" und später als freier Autor für "SZ-Magazin", "Zeit" und "Vogue" arbeitete. Seit 2000 ist er beim "Stern". Der Autor lebt mit Frau und Kindern abwechselnd in Hamburg und in der Nähe von Stockholm.