Szczepan Twardoch: "Der Boxer"


Der dritte Streich

Szczepan Twardoch, 1979 geboren, ist wahrscheinlich der herausragende polnische Autor seiner Generation. Nach seinen mehr als beeindruckenden Romanen "Morphin" und "Drach"  ist nun "Der Boxer" erschienen. Bereits "Morphin" und "Drach" zeigten einen Autor, der nicht nur stilistisch brillieren kann, sondern auch viel Sinn für originelle Formlösungen oder ebenso originelle Erzählstrukturen hat. Schon allein die Verzahnung von verschiedenen Handlungssträngen über Jahrhunderte hinweg, die teilweise innerhalb von Absätzen oder innerhalb von Sätzen "Drach" zu einem Leseerlebnis der ganz besonderen Art machten, war genial. Das Zusammenfügen des Ganzen in einem überzeugenden Roman dann die erfreuliche Draufgabe. Im Vergleich zum Vorgänger scheint "Der Boxer" zu Beginn fast klassisch erzählt zu sein. Allerdings, und das beweist der neue Roman, ist die vordergründige Ebene nicht unbedingt das, was sich als fiktive Wahrheit erweisen wird.

"Meinen Vater hat ein großer, gutaussehender Jude mit breiten Schultern und dem mächtigen Rücken eines makkabäischen Kämpfers getötet. Jetzt steht er im Ring, es ist der letzte Kampf des Abends und die letztes Runde dieses Kampes, und ich schaue aus der ersten Reihe zu. Ich heiße Mojzesz Bernstein, bin siebzehn Jahre alt und existiere nicht."
Wenige Sätze später heißt es dann: "Ich heiße Mojzesz Inbar, bin siebenundsechzig Jahre alt. Ich habe meinen Namen geändert. Ich sitze an der Schreibmaschine und schreibe. Ich bin kein Mensch. Ich habe keinen Namen. Der Boxer im Ring heißt Jakub Shapiro."
An dieser Stelle ist, wie man später merken wird, bereits der Schlüssel zum Verständnis des Romans versteckt.

Mojzesz Inbar ist der Ich-Erzähler dieses Romans, der sich in einem kleinen Apartment in Israel Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg an die Geschehnisse der Vorkriegs- und Kriegsjahre in Polen erinnert. Damals, nachdem er, damals noch Mojzsesz Bernstein, durch die Hände Jakub Shapiros und seiner Schergen zum Halbwaisen geworden war, dessen inoffizieller Ziehsohn wurde. Mojzesz taucht ein in die glitzernde Unterwelt Warschaus, in die Welt der Boxkämpfe, Geldeintreibungen, in eine Welt des Reichtums und der Macht, die moralisch zutiefst verwerflich ist, die allerdings einen derartigen Sog auf ihn ausübt, dass er von ihm komplett verschlungen wird. "Ich hatte Mutter und Bruder verlassen, und der Leib meines Vaters war zum Kapparot zerteilt worden."

Mojzesz wird zu einem ständigen beobachtenden Mitglied des Clans um den Paten Kaplicas und wird Zeuge, wie ein unerbittlicher Krieg um die Vorherrschaft in der Unterwelt vom Zaun bricht. Ein Krieg, der begleitet wird von einer immer stärker in den Sumpf der nationalistischen, antisemitischen Gesinnung gleitenden Stimmung, die dazu führen wird, dass der Übergang der deutschen Machtübernahme 1939 relativ reibungslos gelingt. Bereits lange davor werden jüdische Studenten drangsaliert, und immer wieder kommt es zu Übergriffen. Mojzesz erhält bei Jakub Boxunterricht und lernt, sich zu verteidigen.

Twardoch gelingt, gepaart mit einer faszinierenden Figurenzeichnung, ein beeindruckendes Bild einer Epoche, das diesen immer wieder sehr harten Text zu einem Roman werden lässt, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. "Jakub schoss auf Menschen, er schnitt unschuldigen Greisen die Gurgel durch, aber nie schlug er ein Kind. Ich weiß nicht, warum. Das Leiden eines Kindes ist so viel wert wie das Leiden eines Erwachsenen oder eines Greise, also nichts. Aber so war Jakub nun einmal."

Mojzesz ist, das fällt im Verlauf des Romans immer mehr auf, Beobachter des Ganzen. Er weiß viel - mehr als er als der, der er ist, wissen könnte. Das erzeugt ebenfalls immense Spannung, schon allein deshalb, weil man spürt, dass man diesem Erzähler nicht trauen kann. Auch die Frau, die von Zeit zu Zeit in seiner kleinen Wohnung in Israel auftaucht, will nicht auf den Namen Magda hören, mit dem er sie ruft.

Shapiro hat mit Emilia zwei Söhne und Mojzesz, der fortan bei ihm wohnt. Kontakt zu seiner Mutter und dem Bruder hat Mojzesz nicht mehr. Der Junge erfährt bei den Shapiros jene Wärme, die er bei seinen Eltern nie gespürt haben will. Zu Emilia fühlt er sich in gewisser Weise auch sexuell hingezogen. All das ist blendend instrumentiert, ganz fein die Schattierungen, mit denen Twardoch seine Figuren ausstattet. Er stattet sie, trotz aller ihrer Unzulänglichkeiten, mit einer immensen Tiefenwelt aus, die nie an der Oberfläche bleibt. Das ist Literatur vom Feinsten, in der es immer nur ums Ganze geht. Diese Protagonisten, die auch Unmenschliches anstellen, die skrupellos ihre Aufträge erfüllen, sind alle auch nur Menschen.
"Erst jetzt stelle ich fest, dass Oberleutnant Zielinski sich auf Krücken bewegt. Er ist etwa vierzig, sehr mager und verwahrlost. Das rechte Hosenbein ist hochgekrempelt und mit einer Sicherheitsnadel zehn Zentimeter unterhalb des Knies befestigt. Und ich spüre ein plötzliches Schwanken bei Shapiro. Obwohl ich sein Gesicht gar nicht sehe. Ich weiß einfach, dass Jakub beim Anblick dieses Beines in der hochgesteckten Hose schwankt. Er hatte die Faust schon um den Schlagring in der Hosentasche geballt, jetzt lockert er die Finger, lässt das Messing los."

Ein wichtiges Zentrum in diesem Roman ist Ryfkas Bordell. Irgendwie führen alle Wege dahin und über Ryfkas Lokal wieder hinaus. Hier finden Geheimtreffen statt, werden Abmachungen getroffen und die Weichen für das tägliche Leben gestellt. Ryfka ist eine ganz starke Gestalt, geheimnisvoll und betörend, eine geheime Hauptfigur.

Shapiro ist unerbittlich und dem Paten treu, dafür riskiert er Kopf und Kragen und lässt sich sogar auf eine destruktive Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts ein, der es auf den Paten abgesehen hat, kann ihm jedoch vorerst nicht helfen, als er durch eine Intrige in das erste polnische Straflager verbannt wird, das er de facto nicht mehr lebend verlassen wird. Shapiro übernimmt, nachdem er sich der Intriganten entledigt hat, die Rolle des Paten. Obwohl er stattdessen bereits die Tickets für sich und seine Familie für die Ausreise nach Palästina hat.

Natürlich passiert in diesem Roman viel mehr, als hier auch nur sinnvoll angedeutet werden kann. Vieles möchte und muss der Rezensent bewusst verschweigen, weil es dem Leser sonst für das Erlebnis dieses Romans essentiell wichtige Informationen vorab zuspielen würde. All das, was Twardoch spannend ausbreitet, hat zusätzlich noch die geschichtliche Ebene, ist also, so wie es große Literatur sein muss, viel mehr als das Erzählte per se.

Wie bereits in "Morphin" und "Drach" ist die "deutsche Stimme" Szczepan Twardochs auch hier jene des Autors Olaf Kühl, der wieder einmal eine kongeniale Übersetzung geschaffen hat, die ihren Teil dazu beiträgt, diesen Roman bereits zu einem heißen Anwärter für den Roman des Jahres 2018 werden zu lassen. Zu einem Roman, der sich im Gedächtnis einbrennt und noch sehr lange nachhallt, der keinen Leser kalt lassen kann und eine Vielzahl von beeindruckenden Figuren beherbergt, allen voran die des Mojzesz Bernstein oder auch Inbar. Der viele Fragen aufwirft, über Loyalität, Liebe, Treue, Verdrängung, Selbstbetrug und auch zur Geschichte und den Verstrickungen Polens und der polnischen Bevölkerung in die Gräueltaten der Nazis zwischen 1939 und 1945.

"Der Boxer" ist aber auch ein Roman, der sich mit der Frage beschäftigt, was denn Wahrheit wirklich ist. Eine Tatsache, die dem Leser nur langsam dämmert und ihn in dem Moment, als ihm das klar wird, wie ein perfekt platzierter Kinnhaken umhaut. Was ist denn eigentlich nun die Wahrheit, die uns unser Leben lang begleitet?

(Roland Freisitzer; 01/2018)


Szczepan Twardoch: "Der Boxer"
(Originaltitel "Król")
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin, 2018. 463 Seiten.
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