Madeleine Thien: "Sag nicht, wir hätten gar nichts"
Die
Musik als konterrevolutionäres Element
Die 1974 in Vancouver geborene Autorin chinesisch-malaysischer Herkunft
hat sich in ihren bisherigen Romanen immer wieder auf unterschiedliche
Art und Weise mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt. Ebenso in ihrem
anno 2017 erschienenen Roman "Sag nicht, wir hätten gar
nichts", der es auf die Auswahlliste des renommierten "Man
Booker Prize" geschafft hat. Obwohl sie durch ihre Geburt in
Kanada keine eigenen Erinnerungen an Asien hat, wie sie in Interviews
immer wieder sagt, seien die Erinnerungen quasi in ihre Zellen
eingeschrieben und geerbt.
Hier sind es das China
des 20. Jahrhunderts, der japanisch-chinesische
Krieg und die Kulturrevolution sowie das Massaker am Platz des
Himmlischen Friedens im Jahr 1989. Die Autorin erzählt, wie
der politisch motivierte Umbau der Gesellschaft das Leben von
Intellektuellen, Lehrern und Studenten des Shanghaier Konservatoriums
beeinflusst und zerstörerisch auf ganze Generationen einwirkt,
wie sehr in diesem Fall Musikerinnen und Musiker darunter leiden, dass
das, was sie als ihre Lebensaufgabe sehen, nämlich die
Interpretation von klassischer, westlicher Musik, also der
großen Musik der europäischen Musiktradition,
plötzlich als dekadent gilt. Die Ausübung ihrer
musikalischen Tätigkeit gilt gar als
konterrevolutionäres Verbrechen und wird dementsprechend
bestraft. Durch Demütigung, Verschleppung, Verbannung und
letztendlich auch durch Ermordung derer, die am Ende trotzdem nicht
davon lassen können.
Nach einem furiosen Anfang führt Thien langsam und
bedächtig in diese sehr spezielle Familiengeschichte ein. Eine
Geschichte, die sich auch der Frage widmet, wie sehr man sich selbst
unter widrigsten Umständen treu und zudem kreativ bleiben
kann, wenn dabei sogar das eigene Leben oder das der eigenen Familie
immenser Gefahr ausgesetzt ist. Sie erzählt, von Einem ins
Andere wandelnd, von diversen Begebenheiten, die immer mehr
Körper entwickeln und so einen Erzählfluss kreieren,
der mit Verlauf des Romans zunehmend stärker wird.
"In nur einem Jahr verließ uns mein Vater zweimal.
Das erste Mal, um seine Ehe zu beenden, und das zweite Mal, als er
sich
das Leben nahm. In diesem Jahr, 1989, flog meine Mutter nach Hong
Kong,
um meinen Vater auf einem Friedhof nahe der Grenze zu China zur Ruhe
zu
betten. Danach kehrte sie verstört nach Vancouver
zurück, wo ich allein zu Hause geblieben war. Ich war zehn
Jahre alt."
Marie ist zwischen Trauer, Unverständnis und Wut über
den Selbstmord ihres Vater hin- und hergerissen und muss feststellen,
dass sie über die Vergangenheit ihres Vaters, der in China ein
bekannter Pianist war, nur wenig bis gar nichts weiß. Als
ihre Mutter eine junge Chinesin bei sich aufnimmt, deren Vater eng mit
Maries Vater befreundet war, beginnt mit dieser Ai-ming für
Marie ein Eintauchen in die Familiengeschichte. Die Figur ihres Vaters
wird für sie greifbar, langsam beginnt sie zu verstehen, was
für ein Mensch ihr Vater gewesen ist. Wie er zu dem Menschen
geworden ist, der letztendlich an der Geschichte seines Lebens
gescheitert ist.
So breitet die kanadische Autorin eindrucksvoll ein Panoramabild der
chinesischen Geschichte vor dem Leser aus, eine Geschichte zweier
befreundeter Familien, deren Mitglieder denunziert, verbannt,
umgeschult, gedemütigt und ermordet worden sind.
Die Klasse dieser Autorin zeigt sich darin, dass sie die Botschaft
dieses Romans nie vordergründig mitteilt, sondern immer erst
durch die Erzählung durchschimmern lässt. Das ist nie
einfach, schwarz-weiß oder gar banal. Wie sie die Wirren der
Revolution schriftstellerisch verarbeitet, ist in jeder Hinsicht ein
literarischer Wurf, auch wenn es im Text die eine oder andere
Länge gibt, die jedoch nicht ins Gewicht fällt.
Einfach, weil die Geschichte für sich so stark ist, dass sie
selbst ein paar Längen locker wegsteckt.
Natürlich spielt auch die Musik eine wesentliche Rolle in
diesem Roman. Die Musik der großen Komponisten Johann
Sebastian
Bach, Piotr Iljitsch Tschaikowski und Maurice
Ravel, die
Maries Vater so schätzt, wird zu einer Konstante, die
Stücke werden zu Leitfiguren und einer Art Rettungsanker der
Seele, der über die Repression hinweghilft. Auch wenn die
Musik letztendlich die Menschen vor einem System retten kann, das
darauf ausgelegt ist, alles zu unterdrücken, was nicht genehm
ist.
Dazu kommt ein Buch der Aufzeichnungen, das Maries Mutter ihr
ungefähr ein Jahr nach dem Selbstmord des Vaters
übergibt, ein Buch, das über Generationen hinweg
fortgeschrieben wird, eine Art Kommunikationsmittel, das eine weitere,
fast metafiktionale Ebene erlaubt und auch eine Gedenkschrift
für die viele Toten ist.
"Sag nicht, wir hätten nichts" ist ein detailreicher und
beeindruckender Roman, der, kongenial von Anette Grube ins Deutsche
übersetzt, den Leser am Ende durch eine wunderbare,
unsentimentale, literarische Familiengeschichte im Spiegel der
chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt hat, die
er so schnell nicht vergessen wird.
(Roland Freisitzer; 01/2018)
Madeleine
Thien: "Sag nicht, wir hätten gar nichts"
(Originaltitel "Do Not Say We Have Nothing")
Übersetzt von Anette Grube.
Luchterhand, 2017. 656 Seiten.
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Madeleine
Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern
stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960er-Jahren
nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und
Akrobatik, später studierte sie Tanz,
wechselte dann 1994
über zu Literatur.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Flüchtige Seelen"
Die Neurologin Janie kam als Mädchen von Kambodscha nach
Kanada und hat sich in Montreal ein neues Leben aufgebaut.
Als ihr
Kollege und Mentor Hiroji plötzlich spurlos verschwindet,
bricht diese Welt für sie zusammen, und sie muss sich der
eigenen Vergangenheit stellen. Die preisgekrönte
Schriftstellerin Madeleine Thien folgt den Erinnerungen, Verletzungen
und Träumen ihrer Figuren aus dem Kanada der Gegenwart in den
tropischen Dschungel Kambodschas in den 1970er-Jahren, als dort die
Roten Khmer mit brutalem Terror und der Ermordung von Millionen von
Menschen eine neue Gesellschaftsordnung errichten wollten. Mit klarer,
sanfter Sprache erzählt sie vom Verlust und von der
Wiedergewinnung der Menschlichkeit. (btb)
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