Monika Sznajderman: "Die Pfefferfälscher"
Geschichte einer Familie
"Judesein
heißt vor allem, sich daran zu erinnern, was es einmal
hieß, Jude zu sein. Das beständigste und
charakteristischste aller rabbinischen Gebote ist denn auch das
Sachor! - Erinnere dich!" (Tony Judt)
Martin Pollack hat sich als Autor ganz der Erinnerung verschrieben.
Seine Geschichten sind Erkundungen der Wirklichkeit und also solche von
besonderem Wert. Eben dieser Martin Pollack fungierte als
Übersetzer des Werks von Monika Sznajderman. Auf der anderen
Seite gibt Monika Sznajderman als Verlegerin die Bücher von
Martin Pollack in polnischer Übersetzung heraus. Die
freundschaftliche Verbindung der Verlegerin und des Autors ist
für die Einschätzung des zu besprechenden Werks
elementar. Denn wer könnte besser einen Zugang zu den von
Monika Sznajderman geschilderten Welten finden als Martin Pollack?
Ungewöhnlich an "Die Pfefferfälscher" ist, dass
Martin Pollack nach dem letzten Kapitel zu Wort kommt und seine
Eindrücke schildert.
"Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Schicksal
ihrer Familie oder besser: ihrer beiden Familien nachzuforschen und
alles zusammenzutragen, was sich über sie in Erfahrung bringen
lässt, selbst scheinbar bedeutungslose Details, in der
Absicht, diese Menschen dem Vergessen zu entreißen und die
Erinnerung an sie wachzuhalten. Es geht darum, zu erinnern, zu
gedenken."
Nun mache ich mich also daran, etwas fast Unmögliches zu
versuchen. Nämlich meinen Eindruck über zwei
Familiengeschichten wiederzugeben und mögliche
Verbindungslinien oder Abgrenzungen zu beschreiben. Zuvorderst war es
Monika Sznajderman ein großes Anliegen, ein Erinnerungsbuch
zu schreiben. Dass dies überhaupt möglich war, ist
glücklichen Umständen zu verdanken. Fotos ihrer
jüdischen Familie sind viele Jahre nach Ende des Krieges in
ihre Hände gelangt, sodass die Worte von
Susan
Sontag auf beeindruckende Weise bestätigt
werden: "Die Zeit erhebt die meisten Fotografien,
auch die
dilettantischsten, auf die Ebene der Kunst."
Das Herzstück des Buchs ist zweifellos das erste Kapitel,
"Pension der Erinnerung" benannt. Denn es besteht zu weiten Teilen aus
Fotografien. Dem Betrachter zeigen sich Menschen, die zum
Großteil später der Shoah zum Opfer fielen. Diese
Menschen werden in Alltagssituationen gezeigt, manchmal sind viele
Mitglieder der Familie versammelt, weil sie für ein Foto
posiert haben. Besonders viele Fotos gibt es von der
Großmutter Amelia. Sie war die Mutter des Vaters von Monika
Sznajderman. Ihr Vater hat wie durch ein Wunder überlebt. Die
Autorin spricht ihn auch direkt an, wodurch nimmt das erste Kapitel
einen sehr persönlichen, ja intimen Charakter annimmt.
Entscheidend ist, dass die Erinnerung die väterliche Seite der
Familie lebendig hält. Das Gedenken an Menschen, denen von den
Nazis das Lebensrecht abgesprochen wurde aus dem einzigen Grund, weil
sie Juden
gewesen sind, muss hochgehalten werden. Und es darf nicht
sein, dass ein ganzer Ort, Radom, von dem das zweite Kapitel handelt,
überhaupt keine Erinnerung an die jüdische
Vergangenheit zulässt. Es ist so, als habe sich dort nie
jüdische Kultur entfaltet, als hätten dort nie
jüdische Kinder gespielt und jüdische Familien ihre
Tradition gelebt.
Monika Sznajderman hat vor Ort, also auch in Radom, recherchiert. Und
sie hat sich schließlich ebenso mit dem polnischen Teil der
Familie auseinandergesetzt. Von Seite der Mutter lässt sich
eine Familiengeschichte erzählen, die gutbürgerlich
ist.
Das kurze dritte Kapitel führt zum längsten Kapitel
hin und trägt den treffenden Titel "Wir haben uns alle
gerettet, sie sind alle umgekommen."
Die beiden Familiengeschichten überschneiden sich nicht
wirklich, sondern berühren einander vielleicht erst in der
Unendlichkeit. Auf der einen Seite gibt es die jüdische
Familie, deren Mitglieder in Gettos und in Konzentrationslagern ein
furchtbares Leben fristen müssen, das fast immer mit dem Tod
endet. Manche starben auch in Pogromen, die Ukrainer und Deutsche
durchführten. Amelia, die Großmutter von Monika
Sznajderman, kam am 3. Juli 1941 in einem Pogrom in Zloczow, ukrainisch
Solotschiw, in der heutigen Ukraine ums Leben.
Auf der anderen Seite die polnische Familie, die zwar ein
Stück ihres Reichtums abgeben muss, jedoch das NS-Regime
überlebt. Und eine Frage ist es, die ständig
über dem Buch schwebt: Warum ist der Antisemitismus in Polen
so stark ausgeprägt? Wie kann es sein, dass die meisten Polen
von ihren jüdischen Nachbarn nichts wissen wollten und die
Juden nur geduldet waren?
Monika Sznajderman versucht sich an einer Erklärung: "Für
viele, wenn nicht die Mehrheit der Polen existierten ihre
jüdischen Nachbarn durch Jahrhunderte ausschließlich
als Bezugspunkt für ihre eigenen, polnischen Ansichten und
Gefühle: ausnahmsweise und bestenfalls als ein wertvoller
Bestandteil ihrer persönlichen Welt, in den meisten
Fällen jedoch als düsteres Objekt von Neid und Hass,
als sündige Projektion des Abscheus und der Begierde, als
wirtschaftliches Problem und als politische Frage, die erledigt werden
musste, als, kurz gesagt, Emanation unüberwindlicher
Fremdheit, aber nicht als wahrhaftige menschliche Wesen aus Fleisch
und
Blut."
Dahingehend ist es auch keine Überraschung, dass viele Polen
während des NS-Regimes ihre jüdischen Nachbarn
verraten haben. Dafür haben sie dann irgendetwas bekommen. So
wie sie die Wohnungen und Häuser, und auch das Inventar der
vertriebenen und ermordeten Jüdinnen und Juden,
übernommen haben.
Es gibt im Polnischen ein Wort, das eigentlich nicht
übersetzbar ist: pożydowskie.
Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, was nach den Juden
zurückgeblieben ist. Bereits 1941, sozusagen vor der
Vollendung der Shoah, war in der polnischen konspirativen Presse der
Begriff in Gebrauch. Obzwar die Juden zu diesem Zeitpunkt noch da
waren, träumten viele Polen davon, deren Sachen wie
selbstverständlich in Besitz zu nehmen. Und so geschah es dann
auch. Das Wort pożydowskie beschreibt eine Einstellung, die sich bis in
die Gegenwart hinein bewahrt hat.
Schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fanden Pogrome statt, denen
in Polen Juden zum Opfer fielen. Nach dem Tod von Józef
Klemens Piłsudski im Jahr 1935 gab es für die Nationalisten
kein Halten mehr. Piłsudski hatte Polen zwar fast schon wie ein
Diktator regiert, doch er war kein Antisemit, und während
seiner Regentschaft, die neun Jahre währte, ging es den Juden
den Umständen entsprechend gut.
Nationalismus und Antisemitismus schritten nach seinem Tod also Hand in
Hand voran, und für die Polen hörte die Ablehnung der
Juden mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht auf. Bei ihren
Recherchen fand Monika Sznajderman auch heraus, dass Juden von Polen
umgebracht wurden, die das Schreckensregime der Nazis in
Konzentrationslagern überlebt und es gewagt hatten, ihr Recht
auf ihren Besitz in ihren Heimatdörfern und -städten
einzufordern.
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, dem ausgezeichneten
Erinnerungsbuch von Monika Sznajderman mit meinen Eindrücken
halbwegs gerecht zu werden. Wer darin blättert und sich
insbesondere die Fotos der jüdischen Familie ansieht, wird
manchmal den Atem anhalten angesichts der Tatsache, wie viele
Mitglieder dieser Familie einen sinnlosen Tod starben. Umgebracht von
einem Regime, das die Juden für alles Schlechte verantwortlich
machte. Dabei waren sie es, die allein das totale Böse
repräsentierten, waren sie es, die dafür
verantwortlich waren, dass die Serie der Fotos während des
Kriegs abriss.
Doch es gab Überlebende, die Familien gegründet
haben, und die Fackel des Lebens halten die Nachgeborenen mit Inbrunst.
Die jüdische Kultur hat sich bewahrt, und wenn Monika
Sznajderman die Geschichte ihres Vaters erzählt, der den
Holocaust überlebt hat, rührt dies zu Tränen.
Monika Sznajderman erzählt eine Geschichte, die
erzählt werden musste. Auch wir sind dazu aufgerufen, zu
gedenken und Erinnerungen an Menschen weiterzuerzählen und
aufzuschreiben, die sonst vergessen wären.
Dieser Verantwortung sollten wir uns bewusst sein. Die Lektüre
der "Pfefferfälscher" kann ein Anreiz dazu sein, auch in
unseren Familien nach Spuren Ausschau zu halten, die sonst bald
verwischt sind.
(Jürgen Heimlich; 04/2018)
Monika
Sznajderman: "Die Pfefferfälscher. Geschichte einer Familie"
(Originaltitel "Falszere pierzu. Historia rodzinna")
Aus
dem
Polnischen von Martin Pollack.
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2018. 280 Seiten.
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