Maria Stepanova: "Nach dem Gedächtnis"
Gegen
den kollektiven Gedächtnisverlust schreiben
Maria Stepanovas Roman "Nach dem Gedächtnis" ist ein
größtenteils höchst überzeugender
Text, der sich allerdings nur in geringem Maß wie ein Roman
liest. Eher meint man, einen Essay vor sich zu haben, der gegen eine
Art Erinnerungsverbot oder eine in der damaligen Sowjetunion und Putins
Russland der Jetztzeit ähnliche, kollektive
Gedächtnisamnesie anschreibt. Das ist, soviel vorweg,
grundsätzlich äußert interessant und dank
der sehr gewählten, von Olga Radetzkaja wunderbar
übersetzten Prosa Maria Stepanovas auch zumeist wirklich
überzeugend.
Bereits mit zehn Jahren hat die Autorin die Geschichte ihrer Familie
erstmals aufschreiben wollen. Das ist ihr, ebenso wie der zweite
Versuch im Alter von sechzehn Jahren, nicht gelungen. So trägt
sie dieses Buch ganze dreißig Jahre mit sich herum, bis es
nun endlich fertig ist. Der Leser ist auch Zeuge des
Entstehungsprozesses, an dem er im Zeitraffer mehr oder weniger
teilhaben darf.
Im Mittelpunkt dieses hybridartigen Romans steht das unermessliche
Leid, das die russischen Juden im zwanzigsten Jahrhundert über
Generationen hinweg erlebt und durchlitten haben.
Eine der Hauptprotagonistinnen ist Maria Stepanovas
Urgroßmutter Sara Ginsburg, deren Geschichte die Autorin in
den Zwischenkapiteln rekonstruiert hat. 1905 als Teilnehmerin an den
Aufständen gegen den Zaren verhaftet, wird sie danach von der
Familie zum Medizinstudium nach
Paris geschickt. Sie heiratet früh und verliert
ihren Mann ebenso früh, was dazu führt, dass sie ihre
Tochter alleine aufziehen muss. Da die Tochter auch den Beruf des
Mediziners ergreift, schweben beide während der Zeit der
antisemitischen Verfolgungen des Stalin-Regimes
in
höchster Lebensgefahr.
Eine weitere Protagonistin ist Stepanovas Tante Galja, die alleine in
einer Wohnung lebt. Sie teilt diese mit einer immensen Menge an
Alltagsartefakten, Krimskrams, Erinnerungs- und
Sammlerstücken. Ihr Tagebuch, aus dem Stepanova umfangreich
zitiert, ist detailliert mit alltäglichen Beobachtungen
gefüllt, die einerseits reduziert aber auch sehr bildhaft
Stimmungen wiedergeben. Diese Teile sind stark kontrastierend zu
Stepanovas eigener Prosa, welche die Bildhaftigkeit poetisch steigert.
Diesen Teilen stehen Reflexionen und Gedanken gegenüber, die
den Gegenpol zur Familiengeschichte bilden. Darin erzählt die
Autorin von Hungersnöten und Übersiedlungen, dem
Überlebenskampf der Deportierten und den Repressalien, denen
die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, dem System
nicht gepasst haben, in der Sowjetunion ausgesetzt waren. Sie webt
Gedanken zum Trauma, "Massenware" zu sein, ein, die sie dahingehend
abwandelt, dass daraus das Zeitalter der
höchstpersönlichen Einzigartigkeit des Individuums
entstanden ist. Eine daraus resultierende Tatsache
möglicherweise die heutige Selbstfotografiermanie, welche
vielleicht die Unsterblichkeit bedeuten soll? Sie stellt die Frage, ob
es Luxus geworden ist, vom "Radar verschwunden" zu sein? Über
die scheinbare Möglichkeit, darüber entscheiden zu
können, nicht ganz zu sterben? Über das Entsetzen,
das mit der Unvorstellbarkeit des Todes zusammenhängt, dem man
nichts entgegenzusetzen hat, außer vielleicht der
Profilierung in sogenannten "Sozialen Medien"? Trauer und Schmerz,
Verlust und Verschwinden; das sind die Eckpunkte der
Überlegungen, denen die Autorin eloquent und mit klugen Worten
nachgeht.
Allerdings sind es genau diese Abschnitte, die den Lesefluss immer
wieder ein wenig zum Erliegen bringen. Zu dicht, zu essayistisch ist
das, um in einem Roman den dramaturgischen roten Faden zu tragen.
"Nach dem Gedächtnis" ist kein Erinnerungsbuch. Sicherlich
nicht. Eher könnte man von einem Buch sprechen, das sich mit
dem Begreiflichmachen des Erinnerns per se beschäftigt. Die
Autorin birgt einerseits die Geschichten der Toten, lädt diese
aber an den Arbeitstisch ein, um mit ihnen gemeinsam die Worte dieses
Romans zu formen. An ebendiesen Arbeitstisch lädt die Autorin
auch den Leser ein, um all das Gesagte gemeinsam zu erleben. So ergibt
sich ein höchst polyphones Stimmengeflecht, das dem Leser ein
starkes, wenn auch in Abschnitten wahrlich herausforderndes
Leseerlebnis beschert.
(Roland Freisitzer; 12/2018)
Maria
Stepanova: "Nach dem Gedächtnis"
(Originaltitel "Pamjati pamjati")
Aus
dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp, 2018. 527 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de
bestellen
Maria Stepanova, geboren 1972 in Moskau, ist Lyrikerin, Essayistin und Journalistin und eine der markantesten Gestalten des gegenwärtigen literarischen Lebens in Russland.