Heinrich Steinfest: "Der Umfang der Hölle"


Der Mensch in den Fängen eigener Niederungen, scheinbarer Zufälle und höherer Gewalten: Ein seelenvoller Kriminalroman mit Zuwaage!

"Aber das scheint ja ohnehin Reisigers Spezialität gewesen zu sein, das Hineintappen in groteske Zufälle." (S. 352)

Als Leo Reisiger, Anfang 50, Kunstgeschichteverweigerer, vor seinem Unfall ungern als Werbefachmann bei einem Hersteller von Plattenspielern tätig, und mitsamt Gattin Babett unfreiwillig auf Weltreise befindlich, die Einladung, mit dem steinreichen us-amerikanischen Ölmagnaten Lichfield einen Hubschrauberabstecher auf eine Bohrinsel zu unternehmen, annimmt, ahnt er noch nicht, welche schicksalhaften Ereignisse ihn dort und anderswo noch erwarten. Allerdings ist der seit einiger Zeit dezente Alkoholiker mit besonderer Vorliebe für Gin aufgrund der Vorkommnisse während der zurückliegenden Monate auch von bislang unmöglich Scheinendem nur mehr noch mäßig überrascht.

Nicht nur erfüllt sich im letzten Teil des Romans auf der künstlichen Insel die kryptische mittelbare Suchaufforderung eines untergetauchten hochintelligenten, hinterhältigen Schurken, der inzwischen unter anderem Namen als pharmazeutisch-kreativer Spaghettikoch und später Arzt wirkt, nicht nur begeht ein Todkranker dort Selbstmord in der guten Gewissheit, dass ein Rollstuhlfahrer den perfekten Zeugen abgibt ...

Man sieht schon, in diesem Roman überstürzen sich die Ereignisse geradezu! Teils erschütternd nah an einer sogenannten Wirklichkeit, teils gekonnt ins (vielleicht) Absurde hinübergleitend, verblüfft "Der Umfang der Hölle" mit überraschenden Wendungen, bitteren Schicksalsschlägen und möglichen Präsenzzeichen höherer Mächte, stellt quasi menschliche Beweggründe und Verhaltensweisen dekorativ ins Schaufenster oder auch auf den Prüfstand und bietet nachdenklich stimmende, nichtsdestotrotz aufgrund stilistischer wie auch sprachlicher Finessen unterhaltsame Lektüre, ohne irgendwelche Anflüge von Langeweile aufkommen zu lassen.

"Der Umfang der Hölle" ist (auch) der Titel eines Romans im Roman, verfasst von Claire Rubin, einer ehemaligen Schlagersängerin, verheiratet mit dem äußerlich untadeligen schwerreichen vormaligen Modehausbesitzer und nunmehrigen Gewaltforscher und Mäzen Siem Bobeck, scheinbare Notwehrmörderin ihres Neffen Fred Semper in einem Nobelort im Beisein ihrer Freundin, der Mitarbeiterin und Geliebten ihres Mannes. Der erstochene Neffe wiederum, früherer Proband für eine ganz besondere psychoaktive Substanz aus Finnland, hat seine eigene Agenda - zudem sind alle Sempers als Bobeck-Schmarotzer bekannt.
Und plötzlich mittendrin also Steinfests katholischer Held Leo Reisiger, ein zu Beginn recht unscheinbarer Mann mit nur zwei ausgeprägten Leidenschaften (Lottospiel und Mondbeobachtung), der allerdings aus Furcht vor Teufelswerk seinen Hauptgewinnschein verbrannt hat und daraufhin erst recht von einer haarsträubenden Situation in die nächste gerät.

Alles beginnt mit einer ebenso seltsamen wie couragierten Einmischung Reisigers in die Auseinandersetzung zwischen einigen jugendlichen Wilden und den zwei Frauen im winterlichen Nobelort, der eine Einladung nach Purbach folgt, weil Siem Bobeck den "Helden" kennenlernen möchte.

Eine "hyperpornografische" Nacht mit einer Wildfremden in einem Zug, eine familiäre Geiselnahme unter der Führung Gerda Sempers im Rahmen einer völlig aus dem Ruder laufenden Festlichkeit im österreichischen Purbach, die trickreiche Flucht des Schurken mitsamt seiner offenbar nicht minder gefährlichen Halbschwester aus der zur Falle gewordenen Sternwarte auf dem Gelände eines ehemaligen Habsburger Schlosses, der langersehnte Einsatz von Reisigers Talisman-Schreibgerät in völlig unerwarteter Weise, der fatale Fall des Protagonisten, seine daraufhin plötzlich treusorgende Gattin und die unter seltsamen Vorzeichen stattfindende gemeinsame Weltreise sind nur einige Stationen der rasanten Handlung.

Ein aufputschmittelsüchtiger Sekretär mit speziellen Zusatzaufgaben, eine kleinkalibrige Schwindlerin und Privatdetektivin, Leo Reisigers als Filmkritikerin und Schwimmerin bekannte Frau, ein dreibeiniger Hund namens "Vier", der kettenrauchende Landpfarrer Marzell mit theologisch spitzfindiger Diskussionsfreude und Karriereambitionen ausgestattet - sie alle bevölkern Heinrich Steinfests turbulenten Roman, der genüsslich genreübergreifend und voller kenntnisreicher Seitenhiebe auf (vor allem österreichische) Zustände allerlei mitreißende Episoden und nachdenklich stimmende Überlegungen beinhaltet.
Zudem ergeben sich praktische Anwendungen einiger Gedichtzeilen Georg Trakls für technisch Verspielte wie Siem Bobeck, den Gewaltforscher mit Visionen, der seine Experimente mit der psychoaktiven Substanz "Regina" auf der Bohrinsel mit Hilfe seiner ebenfalls geflohenen Halbschwester unbeirrt weiterführt.

Wegen eines Orkans muss Reisiger auf ebendieser Bohrinsel ausharren, zu allem Überfluss nähert sich ein Eisberg von gigantischer Zerstörungskraft, sodass es zur Evakuierung kommt, in deren Verlauf Leo Reisiger, Siem Bobeck und Gerda Semper, drei mehr oder weniger schicksalhaft erneut vereinte zeitweilige Überlebenskünstler, in einem absolut eigenwilligen Fluchtkapselboot mit Bobecks Vorrat an "Regina" ins lebensfeindliche grönländische Nirgendwo befördert werden.
Der private Brief eines kanadischen Polizisten namens Cassini an seinen deutschen Kollegen Marcuse erklärt als Epilog die rätselhaften Auffindungssituationen der zuvor Vermissten sowie den Verbleib des restlichen "Regina" ...

Die bei ihm übliche Fülle an Ereignissen garniert Heinrich Steinfest als sattelfester Erzähler mit witzigen Anmerkungen z.B. zu lokalen Besonderheiten und allgemein Menschlichem, seinem Einfallsreichtum sind anscheinend kaum Grenzen gesetzt. Stets schimmern in seinen Romanen die Themen Verzicht und Entsagung, Verwundbarkeit, Versehrtsein und Aggressionen, Vorherbestimmung und Willensfreiheit durch, ebenso behandelt werden die Bedeutung von Namen, das Erkennen von Vorzeichen, der Umgang der Menschheit mit der Natur, auch kommt Kritik an sogenannten künstlichen Intelligenzen und Technikgläubigkeit nicht zu kurz.
Steinfests fabulierfreudiges, humorvolles Spiel mit krimigeschulten Erwartungshaltungen der Leser und mit Klischees bereitet großes Lesevergnügen.

"Der Umfang der Hölle" ist spannend, durchgehend unterhaltsam, hintergründig und gespickt mit interessanten Details. Allerdings wird der pfiffige Gesamteindruck leider ein wenig durch zahlreiche "dass/das"-Fehler getrübt.
Davon abgesehen, handelt es sich um empfehlenswerte Lektüre - nicht nur für Krimifreunde!

(Franka Reineke; 07/2018)


Heinrich Steinfest: "Der Umfang der Hölle"
Piper, 2009. 368 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen