Heinrich Steinfest: "Die Büglerin"
Zufällige
Schicksale, schicksalhafte Zufälle? Ursachen und Wirkungen
innerhalb einer höchstpersönlichen Erlebniswelt ...
"'Sollte ich vor dir sterben', sagte Tonia, 'und das glaube
ich bestimmt, dann werde ich mich dir in den Weg stellen. In den
Atemweg. Du wirst das spüren und gleich wissen, dass nur ich
das sein kann. Versprochen!'" (S. 191)
Tonia, eigentlich Antonia Schreiber, schon immer empfänglich
für besondere Vorzeichen des Unglücks, deshalb
möglichst stets für alle Fälle gewappnet und
mit einer höchst individuell geprägten
Spiritualität gesegnet, Meeresbiologin mit einem Faible
für Verzwergungsentwicklungen, kann trotz heldenhaften
Körpereinsatzes nicht verhindern, dass der nervöse
Sonderling Erich Müller im Kino während eines
Handgemenges ihre geliebte sechzehnjährige Nichte Emilie
erschießt und sich danach selbst richtet.
Als Emilie nach einem kryptischen letzten Satz in ihren Armen
verstirbt, bricht die begüterte Tonia konsequent mit ihrem
bisherigen Leben, überträgt ihren Reichtum (nicht
ohne Zynismus) an die katholische Kirche, auch dies Teil ihrer fortan
selbst auferlegten Buße und Strafe für ihr
"Versagen" im Kino, und verdingt sich umgehend als unterbezahlte,
aufgrund ihrer Hingabe und Perfektion sehr geschätzte
Haushälterin, später Büglerin in fremden
Haushalten in Hamburg und danach in Heidelberg.
Bis es soweit ist, hat Heinrich Steinfest allerdings bereits in
bewährter Manier ein stimmungsvolles Bild der bisherigen
Lebenssituationen seiner Protagonistin und ihrer Nichte gezeichnet.
Tonia wurde auf dem elterlichen Segelschiff "Ungnadia" geboren, wo sie
eine unbeschwerte, lehrreiche Kindheit erlebte. Dem Vater war
nämlich gänzlich überraschend nach der
Rettung eines Katers namens Lachs in Wien ein Riesenerbe zugefallen.
Die Eltern Max (Berliner) und Philippa (Salzburgerin) waren Botaniker
von Weltrang und passionierte Trinker, Tonia besuchte als Jugendliche
ein Internat in Italien und studierte. Nach dem frühen Tod der
Eltern unter seltsamen Umständen taucht im Zuge der
Verlassenschaftsabhandlung Tonias Halbschwester Hannah aus dem Dunkel
der Vergangenheit auf, die beiden Frauen verbindet eine enge
Freundschaft, eine Zeitlang bewohnen sie sogar die vom treuen
chinesischen Haushälterehepaar Liang in Schuss gehaltene
elterliche Villa samt Gewächshaus und Aquarien in Wien, doch
infolge der Ereignisse im Kino kommt es zum unwiderruflichen Bruch.
Einer der vielen vergnüglichen Kunstgriffe des Autors ist,
dass nicht durchgehend chronologisch erzählt wird, sondern
zunächst das Kapitel "-1" Tonias Existenz als
Büglerin in einem Heidelberger Familienhaushalt darstellt, der
in weiterer Folge auch als Schauplatz eines aufschlussreichen
inszenierten Treffens mit Siem Almgren, einem der zahlreichen
Söhne Poljakows, eines russischen Vielfachsamenspenders mit
dubioser Biografie und vererbungsfreudigem blauen Nävus,
dienen wird. Anschließend wird die Geschichte vom
Kennenlernen der Botaniker-Eltern ausgebreitet, schließlich
tritt Tonia, die der Leser quasi von ihrer Geburt an kennt, selbst in
Erscheinung, und die Handlung nimmt ihren Lauf bis zu dem grauenvollen
Wendepunkt im Kino.
Als sich Tonia mit dem Ermittler Halala ins Leichenschauhaus begibt,
entdeckt sie eine merkwürdige Tätowierung in Form
eines schwarzen Quadrats auf dem Körper des
Todesschützen, dessen Motive und Vernetzung einstweilen im
Dunklen verbleiben. Zur tätigen Buße entschlossen,
zieht sie resolut die ihr einzig richtig erscheinenden Konsequenzen,
entsagt sämtlichen Reichtümern sowie der Wissenschaft
und geht als Haushaltshilfe nach Deutschland.
Hauptthemen in "Die Büglerin" sind höhere
Mächte, Schuld- und Pflichtgefühle sowie Disziplin,
Perfektionismus und Opferbereitschaft, Erscheinungsformen von
Zuneigung, natürliche und sogenannte
übernatürliche bzw. übersinnliche
Zusammenhänge, Vorherbestimmung und Willensfreiheit.
Aufgrund ihrer vorwiegend aus der Oberschicht stammenden Kunden, bei
denen sie bügelt, kommt die selbsternannte
Büßerin in Heidelberg den Hintergründen der
fünf Jahre zurückliegenden schicksalhaften Ereignisse
auf die Spur: Wer der Schütze war, und was seine Tat
ausgelöst hat. Als sie nämlich auf einem zu
bügelnden Herrenhemd erneut das auffällige schwarze
Quadrat entdeckt, setzt sie alle ihre Fähigkeiten ein und
lässt ihre Beziehungen spielen, um endlich hinter das
Geheimnis des Symbols zu kommen, wodurch eine entsetzliche Wahrheit
enthüllt wird ...
Einige weitere Figuren sind Tonias väterlicher ehemaliger
Vermögensverwalter, der verlässlich bei Bedarf von
Wien aus rechtliche Schritte unternimmt, der attraktive Raketenbauer
Siem Almgren, den Tonia gewissermaßen aus dem Handgelenk
entzaubert, der freundliche Gemüsehändler Karl
Dyballa, der ehemalige Chefarzt und Universitätsprofessor
Hotter, dessen Unterhosen Tonia keinesfalls bügeln darf, sowie
Dyballas Tochter Vivien, bald unheilvoll von der Liebe
enttäuscht, die während des Studiums gerade an einer
Arbeit über Walter Berry schreibt ...
Auch in "Die Büglerin" schüttet Heinrich Steinfest
wieder sein erzählerisches Füllhorn aus: Raffinierte
Wendungen, originelle Einfälle und detailfreudig dargestellte
Figuren gehen quasi Hand in Hand mit aussagekräftigen
Kommentaren zu zeitgenössischen Entwicklungen und
Zuständen. Der Autor kombiniert stets auf abwechslungsreiche
Art und Weise Unterhaltsames, Krimielemente und Gesellschaftskritik mit
Alltagsmagie und Tiefsinnigem. Selbst sprachsensibler "Pendler zwischen
den Welten",
versteht
sich Heinrich Steinfest darauf, "trennende Gemeinsamkeiten"
von Österreichern und Deutschen ebenso treffsicher wie
humorvoll zu thematisieren (beispielsweise die Bedeutung guten Kaffees).
Ganz in seinem Element ist der geschickte Erzähler freilich
nicht nur, wenn es um seine stets prägnanten
Figurendarstellungen geht, sondern auch bei Passagen wie beispielsweise
den beiden folgenden:
"Es ist ein häufiges Thema von Witzbildern, uns
Schlangen zu zeigen, wie sie alles Mögliche schlucken, nicht
nur ganze Eier oder ganze Hühner oder gar Krokodile, sondern
auch Hundehütten und Staubsauger und anderes in diesem
Zusammenhang Obskures. Doch übertragen auf den Menschen kann
es durchaus zu einer treffenden Charakterisierung führen, wenn
man sich vorstellt, was dieser Mann oder diese Frau geschluckt haben
könnte, um so auszusehen, wie sie aussehen. Also
Körper und Haltung betreffend. Um ein Beispiel zu nennen, mit
dem jeder Leser etwas anfangen kann: Der Körper und die
Haltung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel suggeriert dem
Betrachter, sie hätte Mao
Zedong
geschluckt." (S. 178,179)
"Für die meisten Menschen sind Ärzte eine
Verbindung zum lieben Gott. Daran glauben insgesamt auch die
Ungläubigen. Man muss schon ziemlich verrrückt sein,
einem Arzt zu widersprechen. Ich habe das so gut wie nie erlebt. Der
sogenannte mündige Patient ist ein Internettrottel. Den hat
man rasch unter Kontrolle. Sie beweisen ihm einfach, dass er unrecht
hat und sein Wissen auf dem Halbwissen anderer beruht, und danach ist
seine Demut umso größer." (S. 198)
Für seine treue Leserschaft hat Heinrich Steinfest Motive mit
Wiedererkennungswert eingestreut, beispielsweise heißt
Dyballas Gemüsehandlung "Das
grüne
Rollo", und auch ein wohlbekannter einarmiger
Wiener Chinese hat einen Kurzauftritt.
Vor allem das romantisch-melancholische Ende von "Die
Büglerin" wirkt bestürzend: Mit unbeirrbarer
Entschlossenheit lässt die geübte Schwimmerin Tonia
ihren Seelenverwandten, den sympathischen
Gemüsehändler Karl Dyballa, im Hotel auf Mallorca
zurück, um ein junges Leben auf einem Achttausender zu retten.
Zu diesem Zeitpunkt sind die Würfel freilich längst
gefallen ...
"Die Büglerin" ist nicht nur ein ebenso rasanter wie
mitreißender, sondern auch ein nachdenklich stimmender Roman,
wobei weiters bemerkenswert ist, wie einfühlsam Heinrich
Steinfest eine weibliche Weltsicht eingefangen hat.
(kre; 03/2018)
Heinrich
Steinfest: "Die Büglerin"
Piper, 2018. 287 Seiten.
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