Mario Schlembach: "Nebel"
"Jeden
Tag verlasse ich den Friedhof mit einem Lächeln und lebe nur
noch in den Geschichten anderer. Ich kann nicht genug bekommen, denn
jeder Tote ist mein Heil und meine Ruhestätte in dieser wilden
See von Leben, in dem ich keinen Platz mehr finde."
Wenn sich die Zeit zu verlangsamen scheint, wird die Präsenz
des Todes spürbar. Wer sich darauf einlässt, der wird
mit einer Lektüre belohnt, die dicht an die eigene Existenz
heranreicht. Denn Liebe und Tod schimmern aus den Seiten des Buches
hervor.
Der Protagonist und Erzähler wird vom Tod seines Vaters
verständigt und macht sich auf den Weg an jenen Ort, wo er
aufgewachsen ist. Und was sich für ihn auftut, ist das
Hinabsteigen in Ereignisse und Erfahrungen, die er ein Leben lang nicht
loslassen konnte. Der Tod seines besten Freundes, die unschuldige Liebe
zu einem Mädchen. Ständig mit dem Tod, mit
Begräbnissen konfrontiert, gewann das Leben kaum Konturen. Der
Vater war Totengräber und nahm den kleinen Sohn mit, damit
dieser ihm bei seiner Arbeit ein Stück weit
unterstützen und eine Ahnung von den Dingen jenseits des
Alltäglichen gewinnen konnte. Und nunmehr
entschließt sich der Sohn, die Arbeit des Vaters zu tun und
ihn zu begraben.
Welche Schinderei es ist, ein Grab auszuheben und alles zu tun, was
getan werden muss, bis Platz für einen neuen Sarg geschaffen
ist, beschreibt Mario Schlembach meisterhaft. Es darf vermutet werden,
dass der Ort der Geschehnisse Sommerrein sein mag, wo der Autor als
Bauernsohn auf einem Aussiedlerhof aufgewachsen ist. Dafür
spricht insbesondere die Allgegenwart des Lagerfriedhofes.
Das Meisterhafte an diesem Roman ist zweifellos die sprachliche
Dimension, die in keiner Weise an jene der "Dichtersgattin"
erinnert. Die "Dichtersgattin" zeichnet sich durch eine Atemlosigkeit,
einen unendlichen Monolog, aus, der erst mit dem Tod des Angesprochenen
ein Ende findet. Der Leser wird hineingerissen in den Strom der Worte.
Doch "Nebel" bewegt sich in anderen Sprachgebieten. Vielleicht ist es
der Tod und dessen Allmacht, an dem sich die Sprache orientiert. Denn
jeder Satz trägt den Tod in sich. Selbst, wenn über
scheinbare Harmlosigkeiten reflektiert wird, sieht der Leser die
Schaufel des Totengräbers vor sich, der an morsche
Särge anklopft und einen Moment später menschliche
Überreste sichtbar werden lässt.
Die Frage ist, ob "Nebel" eine Metapher für all das kaum
Erkennbare ist, dem sich der Protagonist aussetzt. Er erzählt
von seiner Arbeit als Bestattergehilfe. In Wien hat er angeheuert, aber
mit Herz und Kopf seinen Heimatort nie verlassen. Er schreibt an einem
Totenbuch, das die Lebendigkeit der Begrabenen ausklammert. Es geht um
das Ritual der Bestattung, den Leichenzug, die Trauer der
Angehörigen. Die Toten sind tot und somit in einer
Sphäre, zu der die Lebenden keinen Zugang haben. Dass sie
einst am Leben waren, bekommt keine Bedeutung mehr zugesprochen.
Wenn ein Roman sich fast ausschließlich dem Tod widmet, dann
besteht die Gefahr der Düsternis, wie sie auch der Begriff
"Nebel" charakterisieren kann. Aber so ist es nicht. Zumindest dann
nicht, wenn der Leser den Tod als existenzielle Erfahrung des
Abenteuers Leben ansieht. Die Toten sind es zwar, die einen
bestimmenden Part einnehmen. Doch all die Toten waren einst lebendig
und haben den Lebenden die Erfahrung voraus, dass sie den
Tod
durchschritten haben. Gegen Ende des Buches gibt es eine
unglaubliche Szene, die Leben
und Tod
eng aneinander platziert.
Der Tod wird in der durchökonomisierten Gesellschaft
tabuisiert. In diesem Roman sind die Grenzlinien des Lebens anders
gesetzt. Die dargestellten Menschen sprechen kaum miteinander, leben in
ihren eigenen Erfahrungswelten. Und jene Scheinwelt, in der Menschen zu
Konsumenten und Erwerbsarbeitern erzogen werden sollen, hat jegliche
Bedeutung verloren. Es geht buchstäblich ums Eingemachte, um
die Untiefen des menschlichen Lebens und die unfassbare
Realität des Todes. Machen wir uns auf die Reise und gehen ein
paar Schritte mit dem jungen Mann, dessen tragische Erfahrungen vor
Augen führen, wie wertvoll das Leben jedes einzelnen Menschen
ist.
Das Leben ist kostbar, verschwenden wir es nicht für banalen
Kitsch und sinnbefreite Anstrengungen. So vernehme ich den Ruf des
Romans.
(Jürgen Heimlich; 02/2018)
Mario
Schlembach: "Nebel"
Otto Müller Verlag, 2018. 194 Seiten.
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