Ferdinand von Schirach: "Strafe"
Bei
Gericht wird Recht gesprochen. Nicht aber unerschütterliche
Wahrheit. Zuweilen geschieht es - zweifellos unbeabsichtigt -, dass
tatsächlich Schuldige frei gesprochen werden. Ihnen bleibt
Strafe erspart. Oder tatsächlich Unschuldige werden -
zweifellos unbeabsichtigt - verurteilt. Sie werden wegen nichts
bestraft, weil die Faktenlage erdrückend schien oder weil aus
taktischer Überlegung falsche Geständnisse abgelegt
wurden. Viele Straftaten bleiben überhaupt unentdeckt und
somit ungesühnt; auch dann, wenn Rechtsanwälte darum
wissen, deren Pflicht zur Verschwiegenheit (ihnen) ein hohes Gut ist.
Rechtlich unstrittig, moralisch fragwürdig.
Wer sich bislang noch irgendwelchen Illusionen hingegeben hat, dem
dürfte die vorliegende Schrift des Ferdinand von Schirach
heilsam sein. Oder ärgerlich. Strafverfolgung und
Strafgerichtsbarkeit funktionieren nach eigenen
Gesetzmäßigkeiten. Und ihnen sind ihre spezifisch
eigenen, zuweilen kaum erträglichen Wahrheiten intus. Das Buch
von Schirach gewährt dem Leser einen Einblick darein, der sich
zwar spannend liest, aber nicht weniger sprachlos macht. Vielleicht
auch, je nach Temperament, mutlos oder zornig.
Es dürfte ein Faktum sein: Nebst den Wahrheiten der
Geschichte, der Natur und der Religionen, gibt es auch noch die
Wahrheit(en) des Gerichts. Allesamt Wahrheiten, die sich oft nicht
decken und zueinander, wie am Beispiel von Jesu Auferstehung von den
Toten verdeutlicht (was religiös zwar einwandfrei, aber
historisch fraglich und biologisch unmöglich ist), in
unauflösbaren Widersprüchen stehen. Die Vielfalt an
unverträglichen Wahrheiten mündet in nihilistischer
Verzagtheit. So sind sie, die Spielregeln menschlichen Lebens auf
Erden. Geordnet nach Sprachspielen. Wer unter diesen Umständen
Wahrheit verkündet, der ist ein übler Gesell, ein
Schwachkopf, ein Betrüger bzw.
Verschwörungstheoretiker für geistig
Minderbemittelte, oder der Verkünder eines richterlichen
Beschlusses? Bei Gericht wird abgeschlossen, obwohl man im Dunkeln
tappt.
Von Schirach heizt die Wahrheitskrise auch noch an, wenn ausgerechnet
ein Berufsschläger und eventueller Auftragsmörder als
Einziger im Kreise wissend scheint, ob ein soeben durch das Gericht
erfolgter Freispruch auch wirklich verdient ist. Er, der professionelle
Gewalttäter, hat das Privileg einer klaren Sicht der Sache.
Die Strafverfolgungsbehörden sehen maximal soviel, wie ihnen
im Rahmen der Strafprozessordnung an Fahndungsbefugnissen bzw. an
Einblicken zugestanden ist. Also oft viel zu wenig als zur
Wahrheitserforschung nötig, zumal ein jedes
zusätzlich gewünschtes Fahndungsinstrument heutzutage
ein Politikum darstellt, zu dem ideologische Grabenkämpfe
ausgefochten werden und das Gespenst einen Überwachungsstaates
gezeichnet wird. Manchen Bürgern gilt der Fahnder als
größere Bedrohung als der Mafiaboss. Sie
wünschen, die Befugnisse des Fahnders klein zu halten. Um
jeden Preis.
Wahrheit vor dem Gericht ist jedoch eine Frage der Haltbarkeit von
Ermittlungsergebnissen. Und vor Gericht gilt eine strenge
Verfahrensordnung, deren Angreifbarkeit dem Angeklagten
allfällig zugute kommt. Misslingt der Schuldnachweis, so gehen
potenzielle Mörder frei. Zuweilen mit tragischen Folgen, wie
es der Autor eindrücklich zur Darstellung bringt.
Vor Gericht steckt niemand tiefer im Geschehnis als der
Strafverteidiger. Er hat die intime Kenntnis der verhandelten
Ereignisse. Vorausgesetzt der Klient lügt ihn nicht an und
offenbart das gegenständliche Ereignis umfassend und
rückhaltlos. Ferdinand von Schirach ist als deutscher
Strafverteidiger vom Metier. Die Fallgeschichten, die bei seinen Lesern
für Kurzweil sorgen, sind wohl nicht bloß
mühsam der Fantasie abgepresst, sondern dem beruflichen
Erfahrungsschatz entnommen. Obwohl des anwaltlichen Berufsgeheimnisses
wegen verfremdet, so doch aus dem Leben gegriffen und zur Literatur
veredelt. Die Dramatik ist heftig. Sie brennt sich in das
Gemüt ein. Immerhin hat es eine jede Handlungsfolge zum
Ergebnis, dass sie vor Gericht landet und woran sich - bei
intellektueller Neigung - Fragen ethischer und rechtsphilosophischer
Natur anknüpfen. Keine Alltäglichkeiten, die der
Leser beiläufig überfliegt, rasch wieder vergisst und
die im Denken keine Spuren hinterlassen.
Während sich also der Leser mit grundsätzlichen
Fragen zum Ethos unserer Rechtskultur konfrontiert sieht und ob der
Ergebnisse vor Gericht der philosophische Zweifel über ihn
kommt, geleitet ihn der Autor auf der Handlungsebene in mehr oder
weniger abscheuliche Abgründe der Alltagswirklichkeit. Dort,
wo hinter Fassaden der Bürgerlichkeit die
Verhältnisse sich drehen und die Gewissheiten verschwimmen. Wo
biedere Bürger zu
Mördern oder Rächern
werden. Wo sich letztlich die attraktive Leistungsträgerin als
ein Häufchen Elend entpuppt. Und an diesem Elend sich
fatalerweise eine menschliche Tragödie anschließt,
die ihren Auslöser in der strafgerichtlichen Prozessordnung
hat.
Es ist die Ebene der Lebenswirklichkeit, aus deren Getriebe jene
Fälle erwachsen, die sich in den Netzen der Justiz verfangen.
Ereignisse aus Fleisch und Blut, gehandelt mit Leidenschaft, auch mit
List und Tücke, geboren aus dem Geist arglistiger Strategie,
werden schlussendlich vor Gericht nach gelehrten Prinzipien
abgeurteilt. Zögerlich, weil dem Prinzip Gerechtigkeit
verpflichtet. Ohne Vorurteil. Im Zweifel für den Angeklagten,
auch wenn die Volksseele kocht. Wen wundert es, dass dem Volksempfinden
nur allzu oft ein jedes Verständnis für den Entscheid
des Gerichts fehlt? Und zuweilen das Wort von der
Rechtsexpertenherrschaft die Runde macht.
Zwischen Politik und Justiz besteht im modernen Staat in mannigfaltiger
Weise ein Spannungsverhältnis. Vor allem der Populist bekennt
sich in seinen Wutreden zu einem archaisch anmutenden Faustrecht,
solcherweise er seine Opposition gegenüber einer Rechtskultur
bekundet, die, ihrer menschenrechtlichen Grundsätze wegen,
gegenüber Rechtsbrechern vielfach ohnmächtig scheint.
Und findet Gehör damit, denn das Gemüt des gut
wollenden Bürgers ersehnt sich endlich Gerechtigkeit
für den Anständigen, der ob seiner Gesetzestreue
nicht immer der Dumme sein solle. Der Böse möge ob
seiner schlechten Taten gerichtet - wobei Richten gleich Strafen meint
- und der Gute vor dem Bösen geschützt werden.
Vorurteile helfen bei der sauberen Kategorisierung von Hell und Dunkel
und sind als Praxis unreflektierter Anschauung von Wirklichkeit
verrufen. Doch wer sich dem nur hochmütig
verschließt, handelt übel, denn er missachtet aus
überheblicher Arroganz jene Erkenntnis gewinnenden Prozesse,
die seit ewigen Zeiten in der Logik des Lebens begründet sind
und sich bewährt haben, ansonsten das Leben
erloschen
wäre. Und vermutlich hat nicht nur der Rezensent seine
Erfahrungen mit perspektivischen Expertenmeinungen gemacht, die sich
eitel gut dünken.
Nach der Lektüre von "Strafe" könnte man voreilig
anmerken: Wer Skepsis hegte, ist bestätigt. Wer noch einen
Glauben
hatte, steht nun vor den Scherben seiner
Gutgläubigkeit. Eine schöne Bescherung ist das.
Allerdings, Ferdinand von Schirach spiegelt uns keine heile, sondern
eine vielfältige Welt vor. Für den mündigen
Bürger kennt er keine Schonzeit. Der Citoyen hat sich den
Fakten zu stellen. Mag das auch mühselig, schmerzlich und
letztlich unergiebig sein. Dabei hilft es ihm auch nicht
gemäß der TV-Produktion "Terror - Ihr Urteil"
(Kraume/Schirach) nach quasi demokratischen Spielregeln über
Schuld und Sühne abzustimmen, um sich bequem der Rechthaberei
einer Überzahl anzuschließen. Womit nichts gewonnen
ist, wenn dann weder die Zweifel am Ergebnis noch die Kluft zwischen
herrschenden Rechtsexperten und dem Volksempfinden ausgeräumt
scheinen.
Wer ein Stück spannende Literatur für Zwischendurch
sucht, die Kapitel lesen sich flott, der wird mit "Strafe" sicherlich
vorzüglich bedient sein. Nichtsdestotrotz wird er die
Entdeckung machen, dass der Sinn und Zweck schlussendlich nicht im
bloßen Lesevergnügen, sondern in der Denkanregung
begründet ist.
(Harald Schulz; 04/2018)
Ferdinand
von Schirach: "Strafe"
Luchterhand, 2018. 192 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Schuld"
Ein Ehemann quält jahrelang seine junge Frau. Ein
Internatsschüler wird fast zu Tode gefoltert. Ein Ehepaar
verliert die Kontrolle über ihre sexuellen Spiele. Ein Mann
wird wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. Leise, aber bestimmt stellt
Ferdinand von Schirach die Frage nach der Schuld des Menschen. (btb)
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Ferdinand
von
Schirach, Alexander Kluge: "Die Herzlichkeit der Vernunft"
Sokrates oder das Glück der Bescheidenheit, Voltaire
oder die Freiheit durch Toleranz, Kleist
oder das Wissen um den
Menschen, Terror oder die Klugheit des Rechts, Politik oder das Lob
der
Langsamkeit: Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge unterhalten
sich über Grundfragen des Rechts und der Gesellschaft,
über Theater
und Literatur, über die Gefahren der
direkten Demokratie und der sozialen Medien und darüber, was
den Menschen im eigentlichen Sinn menschlich macht. (Luchterhand)
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