Norbert Scheuer: "Am Grund des Universums"
Still und gut
Der 1951 geborene und in der Eifel lebende Schriftsteller Norbert
Scheuer ist einer der interessantesten deutschsprachigen Autoren. Auch
wenn er mit "Überm
Rauschen" auf der Vorschlagsliste des "Deutschen Buchpreises" und
für "Die Sprache der Vögel" für den "Preis der Leipziger Literaturmesse"
nominiert war, ist er ein Geheimtipp geblieben. Irgendwie nicht
"massentauglich" - was ihn und vor allem seine Bücher jedoch umso
interessanter macht.
Norbert Scheuers Romane leben alle von einer sonderbaren Stimmung und
von einer präzisen, perfekt konstruierten Komposition. Eine Logik der
Materialorganisation, die der gelernte Systemprogrammierer
dankenswerterweise in seine literarische Welt mitübernommen hat. Selten
findet man Romane, die so genau ausgehört, in denen die Geschehnisse so
fein und gleichzeitig abstrakt aufeinander abgestimmt sind, wie seine.
Das seit "Überm Rauschen" bekannte fiktive Eifeldorf Kall steht auch
hier im Mittelpunkt. Ebenso wie die Sprache selbst, die bei Norbert
Scheuer immer faszinierend poetisch und gleichzeitig fantasievoll durch
seine Bücher führt.
"Der Betriebselektriker Lünebach hatte lange Zeit im Lafarge
Zementwerk alle technischen Anlagen gewartet, arbeitete danach einige
Jahre auf Montage, bis er, schwer erkrankt und von seltsamen Ideen
besessen, nach Kall zurückkehrte. Er musste in Frührente gehen und
begann auf dem verwahrlosten Siedlungshof seiner inzwischen
verstorbenen Eltern mit der Konstruktion und dem Bau eines
Raumschiffs, das, alle technischen Ausfälle überstehend, bis zum Ende
des Universums fliegen sollte."
So beginnt "Am Grund des Universums". Gleich im ersten Kapitel erfährt
man allerlei Details des beabsichtigten Raumschiffbaus, der mit einem
Schneidbrenner erfolgen soll, des vermeintlichen Erstfluges, über den
die Grauköpfe, eine ebenso skurrile Versammlung von älteren Herren, die
hier quasi die Rolle der "Klatschweiber" einnehmen, berichten. Vieles
wird gleich hier angedeutet, um später gewichtigere Rollen einzunehmen.
Es ist nicht die große Geste, die hier dominiert, sondern die Suche nach
den Kleinigkeiten, die bestimmend über Glück und Unglück sein können.
Neben Lünebach, der während einer Zeitspanne von acht Jahren (2006 bis
2014) bei seiner stillen Liebes- und Alltagsgeschichte begleitet wird,
kehrt auch Paul Arimond nach Kall zurück, der Afghanistan-Kriegsveteran
und Vogelforscher, mittlerweile Biologe, der in "Die Sprache der Vögel"
Protagonist war. Er kehrt hier von einer Kolibri-Beobachtungsreise aus
Brasilien zurück.
Ein wichtiger Teil der Erzählung ist der Plan, den nahen Stausee zu
erweitern und einen Ferienpark zu errichten. Touristen sollen nach Kall
gelockt, somit die Wirtschaft angekurbelt werden. Das Urftland soll
wieder erblühen. Dafür sollen Grundstücke gekauft und gewinnbringend
weiterverkauft werden, Finanzierungspläne werden erstellt. Natürlich
müssten dafür auch Wälder gerodet und Flüsse
umgeleitet werden. Örtliche Bauunternehmer und Bankiers, Lokalpolitiker
und einflussreiche Persönlichkeiten; sie alle spielen hier eine
gewichtige Rolle. Ebenso wie die Cafeteria des Supermarktes, trist,
uncharmant, aber Herz und Seele von Kall, in der man alles erfährt -
oder auch nicht.
Die "Grauköpfe", die ihre Zeit in der Cafeteria verbringen, beobachten,
kommentieren und sind so etwas wie ein Filter, der dem Leser als
Informationsquelle dient. Sie beobachten und kommentieren alles, was in
Kall und der Cafeteria passiert. Das führt von Belanglosigkeiten über
Wettergespräche bis hin zu den teils sarkastischen Bemerkungen über die
Stauseeerweiterung, die, und das ahnt man sehr früh in diesem Roman, nie
zustandekommen wird. Natürlich beobachten sie auch Beziehungsmomente.
Nina Plisson, die an einer genetisch bedingten Schwäche leider, die
"Alexia sine agraphia" heißt und bedeutet, dass sie zwar schreiben, aber
nicht lesen kann. Sie verliebt sich in Paul, den in Afghanistan nicht
nur physisch sondern auch seelisch verwundeten Ex-Soldaten.
"Er hatte den Moment der Explosion erlebt, als würde er auf einem
Feuerball hochgeschleudert, es war gleißend hell und vollkommen still
dort oben. Monate brachte er in diesem hellen Nichts zu; dann hörte er
leise Musik und sank wie mit einem Fallschirm zur Erde. Er landete
mitten im Stausee, und ihm war, als würde er im Wasser treiben und
langsam versinken."
Ein roter Faden durch diesen Roman ist dazu die chinesische Philosophie,
genauer das
Daodejing, eine Sammlung von Sprüchen des großen Laotse. Hierfür
lässt Scheuer die Urenkelin des letzten Bergwerkdirektors ins Spiel
kommen.
Mit viel Sympathie für seine Protagonisten geht Norbert Scheuer ins
Detail, zeichnet liebevoll und mit viel Poesie, verzettelt sich trotzdem
nicht in Unwichtigkeiten. Sollten an dieser Stelle berechtigte Zweifel
überwiegen, ob denn ein so kurzer Roman mit so vielen Ideen (hier
angedeutet nur ein kleiner Bruchteil übrigens) und Details funktionieren
kann, beruhigt der Rezensent: Ja, er kann - und wie!
Ohne Sentimentalitäten geht es um Sehnsüchte, Geheimnisse und eine
obskure Welt verschollener Dinge. Darum, dass Fortschritt nicht
unbedingt glücklich machen muss, darum, dass es wichtig ist, die Dinge
zu bemerken, die wir im Alltag nur allzu gern übersehen. Und um ein
Dorf, das es so in dieser Form natürlich nicht gibt, dennoch geben
könnte. Und darum, dass man, sollte man je wirklich in dieses
Scheuersche Kall gelangen, hofft, genau jene Protagonisten zu treffen,
denen man bereits auf diesen Seiten begegnet ist. Ein wenig so, wie man
gerne aus womöglich anderen Gründen ins Faulknersche "Yoknapatawpha
County" reisen möchte. So bleibt einem nur der Weg ins wirkliche Kall -
oder der Griff zu einem der vielleicht noch nicht gelesenen Romane von
Norbert Scheuer.
(Roland Freisitzer; 01/2018)
Norbert Scheuer: "Am Grund des Universums"
C.H. Beck, 2017. 240 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen