Frank Schätzing: "Die Tyrannei des Schmetterlings"
Die Idee, eine entstehende selbstwahrnehmende, künstliche Intelligenz
könne sich zu einer sich selbst entwickelnden Superintelligenz
weiterentwickeln, wurde in den vergangenen Jahren in Film und
Literatur wiederholt aufgegriffen.
Auch Frank Schätzing hat sich nun dieses Themas angenommen, indem er den
kalifornischen Untersheriff Luther Opoku im Verlauf einer
Unfallermittlung auf eine geheime Forschungseinrichtung in der
kalifornischen Gebirgseinöde stoßen lässt, wo er bei einer Besichtigung
mit dem Inhaber auf einen Sicherheitsmann trifft, der Verletzungen
aufweist, die ihm das Unfallopfer zugefügt haben könnte. Als er den
Sicherheitsmann darauf anspricht, flüchtet dieser sofort in das Innere
der Forschungsanlage. Bei der Verfolgung des Verdächtigen über eine
seltsame leuchtende Brücke landet Luther in einer Welt, in der die
letzten 24 Stunden noch nicht stattgefunden haben, wo auch seine vor
Jahren bei einem Unfall gestorbene Frau noch lebt. Und wo etwa seine
Hausschlüssel nun zweimal zu existieren scheinen. Im Garten hinter
seinem Haus gibt es ein frisches Grab, in dem sein eigener Leichnam zu
liegen scheint.
Luther ist durch ein seltsames Tor in ein Paralleluniversum im Sinn der
Theorie von Max Tegmark gelandet, was an sich interessante Aspekte und
Probleme mit sich bringt, die einen eigenen Roman rechtfertigen würden.
Um diese Motive zu erforschen, werden seine Biografie und die
Lebensläufe einiger anderer Charaktere genauer beleuchtet; auch, um die
Brüche in ihren jeweiligen Parallelleben detailliert darzustellen. Dies
zeigt, wie sehr schon kleinere Veränderungen in einem Zeitablauf ein
Leben nachhaltig verändern können - und es gibt für Luther und
diejenigen, denen er sich in seiner "neuen Welt" offenbart, viel Stoff
zum Nachdenken.
Leider verschiebt sich die Betrachtung danach in erster Linie zur Frage
der emergierenden Superintelligenz in einem Computer-Mainframe
und im Internet, was eine moderne Variante von "Terminator"
darstellt, in denen das "Internet-der-Dinge" die bekannten
Kampfmaschinen weitgehend ersetzt - und noch eine andere technische
Entwicklung.
In der Forschungsstation gibt es ein "AI"-Programm namens "A.R.E.S." -
wirklich ein wenig unglücklich gewählt -, das kurz davor steht,
eigenständig zu werden. Dies ist ein Moment, den viele Theoretiker zu
dieser Thematik mit allerlei Gefahren behaftet sehen, aber die
eigentlichen Knackpunkte scheinen dann doch anderswo zu liegen.
Bei der Betrachtung dieses Komplexes werden die ausgiebig
ausgearbeiteten biografischen Hintergründe der Charaktere immer
irrelevanter, und man verliert sie zunehmend aus den Augen, während man
sich durch zahllose Seiten von eingebetteten Vorträgen liest bzw. auch
quält, die nicht immer sonderlich relevant für die Gesamthandlung sind.
Da auch noch andere Themenbereiche abgehandelt werden - wie zum Beispiel
die Erzeugung von kybernetischen Organismen aus Insekten sowie Waffen-
und Technologieschmuggel zwischen den Dimensionen - beschleicht einen
nach und nach das Gefühl, die bemüht belletristische Zusammenfassung
mehrerer Sachbücher zu lesen, wobei die Handlung eher ein Mosaik als ein
geschlossenes Bild ergibt. Und zuguterletzt werden gerade die
Motivationen der "Bösen", wenn man sie denn so nennen möchte, zunehmend
fragwürdiger.
Fazit: Viele Informationen, zahlreiche interessante Ideen und
Überlegungen - als belletristisches Werk wenig erfreuliche Lektüre.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2018)
Frank
Schätzing: "Die Tyrannei des Schmetterlings"
Kiepenheuer & Witsch, 2018. 734 Seiten.
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